Der Schatten der Pflege in Deutschland

Pflege geht auch anders.

Geschichten aus dem Altersheim sind schwer zu erzählen, weil kaum jemand sie hören will, vor allem wenn sie vom Alltag handeln. Wird überhaupt einmal erzählt, dann läuft ein Wettbewerb des Grellen und Lauten, am Ende wirkt alles wie Karikatur. 

Die Politik wirft sich immerfort als Retter in die Brust, als Hüter der Pflege, als fürsorglicher Vater Staat, der stets wisse, was zu tun sei, um das System für alle Zeit wetterfest zu halten. Dagegen stehen, völlig zu Recht, empörte Kritiker auf, im Schlepptau ausgelaugte Pfleger und aufgebrachte Angehörige. Sie inszenieren ihrerseits, auf wahre Geschichten gestützt, eine endlose Geisterbahn, hinter jeder Tür eine verdurstende Alte, eine hilfloser Greis in seinen Exkrementen, mürbe Gestalten, an Betten gefesselt, misshandelt, rechtlos.

Neutrale Sätze über die Altenpflege zu sagen, zumindest einen unumstrittenen sachlichen Kern zu finden, ist schwer geworden. Ein allseitiges Gestikulieren ist im Gang, die andauernde Skandalisierung, jetzt, wo der demografische Wandel für alle spürbar einsetzt und die Überalterung der Gesellschaft konkret wird. Die geburtenstarken Jahrgänge, Männer und Frauen heute um die fünfzig, begegnen den schwierigen Fragen, als Angehörige zuerst. Wie weiter mit dem dementen Vater? Wohin mit Mutter? Und dann: Wohin mit mir?

Ein neues Pflegesystem muss sich am aufgeklärteren Menschenbild vieler europäischer Nachbarn und vor allem der Skandinavier orientieren. Dass Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, selbst dann der Geldbeutel zugehalten wird, wenn es darum geht, den eigenen Vater und Mütter, den Groß- und Urgroßeltern einen guten, friedlichen, angenehmen Lebensabend zu ermöglichen, ist ein peinlicher, unwürdiger Zustand. Ihn abzuschaffen gehört zum historischen Auftrag.

Im Vergleich mit Deutschland geben Dänemark oder Schweden für Bürgerinnen und Bürger, älter als 65 Jahre, pro Kopf und Jahr locker das Dreifache aus, um ein Altern in Würde zumindest nach Kräften anzustreben. Altenhilfe wird in Skandinavien insgesamt als eine der vornehmsten Aufgaben des Staates verstanden und nicht den in der Regel überforderten Familien übertragen wie hierzulande.

Die nordischen Kommunen kümmern sich um ihre alten Mitbürger, auch lange bevor diese überhaupt zu Pflegefällen im deutschen Sinne werden. In Dänemark bekommen alleinstehende Alte präventive Hausbesuche, bei denen sich womöglich schnell herausstellt, das diese Dame oder jener Herr keineswegs ins Heim muss, sondern lediglich jemanden braucht, der einkaufen geht. Im Norden haben sich völlig andere Strukturen der ambulanten Pflege ausgebildet, die auf Deutsch wohl niedrigschwellig hießen. Sie machen die nordischen Systeme flexibel, und sie lassen das deutsche starr und falsch aussehen.

Man kann sich die Statistiken  und Studien recht wahllos herauspicken und erschrickt ein ums andere Mal. Im Vergleich mit den hochentwickelten OECD-Ländern unterhält Deutschland eines der billigsten Pflegesysteme. Deutschland liegt auch bei der personellen Ausstattung und vielen anderen Qualitätskriterien im internationalen Vergleich auf den hintersten Plätzen. Dänemark, Norwegen, Irland, die Schweiz, Belgien. Neuseeland, die Niederlande, Frankreich, sie machen es alle großzügiger.

Wann sehen die Bürger, die Wähler ein, dass die Familien basierte Pflege, das Bismarck-Modell, ausgedient hat.  Steuerfinanzierte Pflegesysteme besitzen Schweden, Norwegen, Dänemark, Australien und Großbritannien, der Staat hat sich zu seiner Verantwortung bekannt.