Wann kommt die angekündigte, wie kommt die überfällige Reform?
Fortsetzung vom 21.5. „Der Sozialstaat wird erpresst„
Wieder vertagt auf die neue Legislatur?
Diakonie und Caritas dringen auf Pflegereform
Die ehrenamtlichen Spitzen von Diakonie und Caritas drängen die Bundesregierung, sich auf Tariflöhne in der Altenpflege zu verständigen. Zuvor hatte die Caritas Tariflöhne abgelehnt. Angesichts der knapp werdenden Zeit bis zur Bundestagswahl „muss die Koalition jetzt liefern“, forderte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie am 21.5.20 in Berlin. Am 1.6.2021 einigte sich die Regierung, aber die CDU/CSU Fraktion blockierte bereits am 2.6.21 den Kompromiss. Lobby und Medien überschlagen sich. Die Emotionen gehen hoch.
Die Beratung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG), das am 21. Mai verabschiedet werden sollte und die Regelungen zum Tariflohn in der Pflege beinhaltet, wurde kurzfristig von der Tagesordnung genommen. Am 31. Mai ist nun zunächst eine weitere Anhörung im Gesundheitsausschuss angesetzt. Das Gesetz soll dann am 10./11. Juni im Bundestag verbaschiedet werden.
Der Sinneswandel bleibt im Nebel
Wortgewandt sehen Politiker und Interessierte die Notwendigkeit der Verbesserung der Versorgung von hilfebedürftigen Menschen, es fehlt nicht an Ideen und Ansätzen. Die Umsetzung scheitert oder wird blockiert bei der Finanzierungsfrage – geschuldet „Privat vor Staat“. Wo bleibt der Mensch, wo bleibt ein frühzeitiger ganzheitlicher Ansatz, auch in der Kostenbetrachtung? Die Diskussion geht über die Köpfe der Bürger!
Die allermeisten derzeit diskutierten Reformvorschläge, wie auch der neueste Vorschlag des Bundesgesundheitsministers der CDU J. Spahn „einmal Rolle rückwärts„, bewegen sich innerhalb des bestehenden Systems – und damit in einem überaus und nur historisch zu verstehenden „versäulten“ sektoralen System aus dem vergangenen Jahrhundert mit ganz unterschiedlichen Finanzierungsquellen. Für jeden Betroffenen deutlich und nachvollziehbar werden die Systemgrenze zwischen der Pflegeversicherung nach SGB XI, der Krankenversicherung nach SGB V und der Reha nach SGB IX.
Doch der Reihe nach
Wenn heute tatsächlich die Pflegebedürftigen und eine qualitative Zielerreichung im Mittelpunkt stehen, dann werden die Finanzierungsfragen und die Reformanforderungen noch komplexer, weil „systemübergreifend“ Krankenkassenrecht (SGB V), REHA (SGB IX) und Pflegekassenrecht (SGB XI).
Keine Graue Theorie
In der Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr wird in ihren beiden Einrichtungen „Haus Ruhrgarten“ und „Haus Ruhrblick“ ein „Konzept therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen“ anwendet.
Oskar Dierbach, der geschäftsführende Pflegedienstleiter der Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr erklärt dazu: „Viele Bewohner bringen Medikationspläne mit, die für sich schon eine Körperverletzung darstellen und die das Leben der Pflegebedürftigen beeinträchtigen. Der Apotheker untersucht die Wechselwirkungen der jeweils eingenommenen Arzneimittel und die Ärzte entscheiden dann, welche Medikamente abgesetzt werden können. Erst danach sind viele Patienten erst in der Lage, bei der Rehabilitation mitzumachen.“ Herr Dierbach meint weiter: Sehr wichtig ist es zudem, den Therapieplan an den Patienten anzupassen und nicht umgekehrt. „Wir schauen zusammen mit Fachleuten wie Ärzten, Apothekern, Pflegefachkräften und Therapeuten, welche Therapie für den Einzelnen die beste ist und wie diese in den Pflegealltag implementiert werden kann, Der pflegebedürftige Mensch gibt mit seiner Tagesform die Taktung für das therapeutische Handeln vor.“ Hauptaufgabe der Pflegekräfte sei es zu motivieren und zu beobachten, wann der Pflegebedürftige bereit sei mitzuarbeiten. Vor diesem Hintergrund könne es auch vorkommen, dass Patienten über Monate in der Einrichtung rehabilitativ behandelt werden, bevor es ihnen besser gehe. „Viele Reha-Konzepte sind heute sehr kurzfristig angelegt, die meisten auf einen Zeitraum von 21 Tagen“ … Dabei hätten Studien gezeigt, dass man für eine erfolgreiche Rehabilitation eher Monate benötige als Wochen.
In den Heimen der Evangelischen Altenhilfe in Mülheim an der Ruhr wurden in den Jahren 2017 bis 2019 rund 170 Menschen erfolgreich rehabilitativ gepflegt und wieder nach Hause entlassen. Die überwiegende Mehrzahl von 106 Patienten war nur bis zu 3 Monate in der Einrichtung.
Vergleich aus Sicht der Bewohner
Wer die Heimentgelte der Einrichtungen mit den übrigen Entgelten der Pflegeeinrichtungen in Mülheim vergleicht, ist als Angehöriger erst einmal über die Höhe des Gesamtentgeltes von Brutto über 3.216 € erschrocken, dies ist mit der höchste Monatswert. Eine genaue Betrachtung offenbart erhebliche Unterschiede, es zeigt sich die Professionalität der langjährigen Doppelspitze in der Geschäftsführung der komplexen Pflegeeinrichtung. Zu unterscheiden sind Pflegeeinrichtungen zu Hotelresidenzen mit Pflege. Ein Indiz Hotel oder Pflege zeigt der Vergleich beim Einrichtungseinheitliches(Pflege)Entgelt (EEE) von 1.681 €. Deutlicher wird der Brutto-Kostenvergleich beim 95 prozentigen Personaleinsatz im Beispiel bei Pflegegrad 2 mit dem doppelten Pflegekräfteanteil, wie in der billigsten Einrichtung.
Kostenbasis 2020 des Ruhrgartens mit der billigsten und der teuersten Einrichtung.
2020 | V priv. | Ruhrgarten | SS H |
Pflegeentgelt II mtl. | 1.238,47 € | 2.451,01 € | 2.089,01 € |
Pflegeanteil EEE | 468,47 € | 1.681,01 € | 1.319,01 € |
– Unterkunft & Verpflegung | 952,15 € | 1.129,19 € | 1.166,30 € |
– Investition | 466,64 € | 405,80 € | 760,20 € |
Hotelkosten | 1.418,79 € | 1.534,99 € | 1.926,50 € |
Gesamtanteil Bewohner | 1.887,26 € | 3.216,00 € | 3.245,51 € |
Gesamtkosten stationär | 2.657,26 € | 3.986,00 € | 4.015,51 € |
Interessant ist es, dass im Ruhrgarten zwar 21,5 % mehr Pflegekosten eingesetzt werden, aber im Hotelkostenbereich die Mehrkosten wieder eingespart werden. Oft vergessen wird, Bewohner und Angehörige sollten die Atmosphäre der Einrichtung mit bedenken. Jeder braucht eine andere Ansprache und Umgebung.
Vergleich aus Sicht der Versicherten, der Allgemeinheit
Aus einer Untersuchung der Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) auf der Basis von 1.117 Pflegeheimen der AOK Rheinland/Hamburg im Vergleich mit den Daten der Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr liegen die durchschnittlichen Gesamtkosten je Bewohner im Haus Ruhrgarten um 37 Prozent niedriger als in allen untersuchten Heimen. Anders ausgedrückt: Heime, die keine therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen vornehmen, sind insofern um ein Drittel teurer.“ Ursache dafür seien insbesondere Einsparungen durch Krankenhausaufenthalte sowie durch Arzneimittel- und Hilfsmittelkosten.
Fazit:
Der neueste Vorschlag von Spahn, zielt allein auf den Pflegeanteil ab. Der „Hotelkostenblock“ bleibt bis auf 100 € bestehen, vorausgesetzt die Investitionskosten sind vom Land anerkannt. Eine ganzheitliche Versorgung kann es nur geben, wenn die Politiker sich für sie eine gesamtgesellschaftliche Sicht entscheiden. Heute wird sich aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht aus verschiedenen Quelle bedient. Die heutigen Regelwerke haben zudem eigene Anreizsysteme, die sich häufig widersprechen.
Wir hoffen, mit den beiden bisherigen Darstellungen einen weiteren Einblick in die Materie der Finanzierung gegeben zu haben. Es wird vergessen, in der Diskussion ist nur der Pflegeanteil, nicht der Hotelkostenanteil. Pflege ist nicht gleich Pflege. Für eine vertiefende Diskussion stehen wir zur Verfügung. Der letzte Weg im Leben sollte uns alle angehen. Wir dürfen nicht weiter darauf vertrauen, dass „die Politik“ im Sinne der schweigenden Bürger entscheidet.
Der Mensch muss wieder im Mittelpunkt stehen.