Soziale oder räumliche Distanz

Alle reden von „Social Distancing“.

Ist sie der fälschlichen deutschen Übersetzung geschuldet,

die Distanz zu den Senioren?

Werden wir hellhörig, wenn es in der auflagenstarken Presse heißt: „Menschen auf der ganzen Welt müssen bis ins Jahr 2022 ein gewisses Maß an sozialer Distanzierung wahren, um eine erneute Ausbreitung von Covid-19 und eine Überforderung der Gesundheitssysteme zu verhindern.“?  Hört keiner die verzweifelten Rufe der Angehörigen?

Sind die Senioren auszugrenzen?

Es ist schon bezeichnend, dass die Pflegeeinrichtungen im Infektionsschutzgesetz (IFSG) nicht direkt als zu schützende Einrichtungen genannt sind. Die Leiter von Altenhilfe-Einrichtungen, die Pflegedienstleitung, haben bisher verpflichtend nicht sicherzustellen, dass innerbetriebliche Verfahrensweisen zur Infektionshygiene in Hygieneplänen festgelegt werden, § 23 Absatz 5 IFSG. Die positive Öffnungsklausel für die Länder nach § 36 Infektionsschutzgesetz wurde bisher nicht genutzt.

Ist das zufällige Fehlen der Altenhilfeeinrichtungen im Gesetz gewollt? Bundesgesundheitsminister Spahn denkt und redet allein von Krankenhäusern und den dort fehlenden Schutzmasken und Pflegekräften, so auch die Landesminister, die Regierungspräsidien als Aufsichtsbehörden.

Warum „soziale Distanzierung“ ?

Die Sozialwissenschaften kennen eine räumliche Nähe bei gleichzeitiger sozialer Distanz. Beschrieben werden das Zusammenleben von Personen bzw. Gruppen verschiedener ethnischer Zugehörigkeit und die räumliche Trennung einerseits sowie die Stigmatisierung und Diskriminierung andererseits.

Gerade in den Zeiten der Verunsicherung brauchen wir mehr soziale Nähe. Müssen wir nicht alles daran setzen, die Kontakte zu den überlasteten pflegenden Angehörigen und auch zu den Angehörigen in den Einrichtungen auf andere Weise intensivieren, um eine weitere Isolation zu vermeiden? Welch ein Menschenbild vermittelt die Einrichtungsleitung mit dem Ausspruch: „… dass Sie froh sein können, wenn wir so Ihre liebsten Familienmitglieder am Leben erhalten.“?

Das „Gebot der Menschenwürde“ gilt weiter!

„Aus ethischer Sicht ist es geboten, in eine Diskussion über das Verhältnis von Nutzen und Folgekosten der ergriffenen Maßnahmen des „Social Distancing“ für Bewohner/innen von Pflegeheimen und ihre Angehörigen einzutreten. Mit Blick auf die totale Isolation der betroffenen Gruppe ist zu fragen, wer hier wen vor was effektiv schützt. Warum wurde von Anfang an allein auf die drastischste aller Maßnahmen – das umfassende Besuchs- und Kontaktverbot – zurückgegriffen wird. Es hätte durchaus eine „konsequente Eingangskontrolle des eintreffenden Personals und sonstiger Personen (auch ehrenamtlicher Helfer) durchgeführt werden können“, um im Falle eines positiven Befundes (Krankheitszeichen wie z.B. Fieber) den Zugang zu unterbinden. Doch warum sollten die Bewohner/innen lediglich vor den Angehörigen geschützt werden, wenn ein ausreichender Schutz vor dem Personal nicht gesichert werden kann? Angesichts der stark anwachsenden Zahl infizierter Pfleger/innen [Tagesschau, 2.4.2020].“  So Prof. Dr. Frauke Koppelin. Dies gilt es aufzuarbeiten. Solange wollen wir doch nun nicht warten. Denken wir an die dementen Angehörigen. Erkennen die uns wieder?

Wäre es eine Möglichkeit, die vielen ausgemusterten Handys der Kinder und Enkel, die einen Internetempfang zulassen, zu aktivieren? Warum nicht:

  • die Fernsehbildschirme für digitale Nachrichten nutzen.
  • aktive Bewohnerbeiräte in der Kommunikation unterstützen?

Die räumliche Distanz darf nicht zur sozialen Distanz und Ausgrenzung werden. Die Sorge der Betreiber wegen der Ansteckungsgefahren sind berechtigt. Dies entbindet sie aber nicht, die gesetzliche Mitwirkung der Bewohnerbeiräte zu beachten. Wer diese notwendige Kommunikation nicht sieht, läuft Gefahr, die Verhältnismäßigkeit der Auswirkung und die Eingriffe in die Rechte nicht abzuwägen. Bereits seit 2002 steht in der Heimmitwirkungsverordnung – (HeimmwV)

§ 30 Mitwirkung bei Entscheidungen

Der Heimbeirat wirkt bei Entscheidungen der Leitung oder des Trägers in folgenden Angelegenheiten mit nach Ziffer

  1. Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen,
  2. Alltags- und Freizeitgestaltung,
  3. Mitwirkung bei Maßnahmen zur Förderung einer angemessenen Qualität der Betreuung.

§ 32 Form und Durchführung der Mitwirkung des Heimbeirates

(3) Entscheidungen in Angelegenheiten nach den §§ 30, 31 hat die Leitung oder der Träger mit dem Heimbeirat vor ihrer Durchführung rechtzeitig und mit dem Ziel einer Verständigung zu erörtern. Anregungen des Heimbeirates sind in die Überlegungen bei der Vorbereitung der Entscheidungen einzubeziehen.

(4) Anträge oder Beschwerden des Heimbeirates sind von der Leitung oder vom Träger in angemessener Frist, längstens binnen sechs Wochen, zu beantworten. Der Träger hat die Antwort zu begründen, wenn er das Anliegen des Heimbeirates bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt hat.

34 Ordnungswidrigkeiten

Ordnungswidrig im Sinne des § 21 Abs. 2 Nr. 1 des Heimgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig

  1. entgegen § 32 Abs. 3 Satz 1 Entscheidungen vor ihrer Durchführung nicht rechtzeitig erörtert.

Die Corona Einschränkungen mögen unerwartet gewesen sein und ein Handeln vordringlich. Doch langsam sollten sich die Angehörigen mit den Bewohnerbeiräten über mögliche Erleichterungen verständigen können.  Bewohnerbeiräte sollten die Möglichkeit nach § 32 Absatz 4 nutzen. Die Ländergesetze sehen ähnliche Regelungen vor. Hierzu siehe unter BIVA e.V. Ländergesetze.

Was hilft es, dass Senioren allgemein und in Heimen insbesondere als zu schützende Gruppen benannt werden? Wer kennt die formulierten Gefährdungsanalysen, aus denen sich dann die Maßnahmen ableiten, damit abgewogene notwendige Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter und Bewohner getroffen werden? Es fehlt bisher überwiegend an den Hygieneplänen, an Schutzausrüstungen für die Mitarbeiter, an ausgewogenen Schutzmaßnahmen für die Bewohner und Angehörige. Die Bundesgesetzgebung hat Altenhilfeeinrichtungen bewusst im Infektionsgesetz (IFSG) nicht genannt, damit fehlt ein Rechtsanspruch für Bewohner und Mitarbeiter.

Wehret den Anfängen

  • 23 Absatz 5 IFSG muss mit einer weiteren Ziffer für Altenhilfeeinrichtungen ergänzt werden. Hygienepläne sind auch in Altenhilfeeinrichtungen ein notwendiges MUSS.

Die staatlichen Aufsichtsämter haben den Arbeitsschutz in den Einrichtungen aktiv wahrzunehmen. Schutzrechte, die körperliche Unversehrtheit, in Notzeiten einseitig aufzuheben, ohne dabei die Schutzinteressen der Arbeitnehmer zu berücksichtigen, ist unverhältnismäßig. Einmalige Geldversprechen sichern nicht vor Ansteckungsgefahren und Überforderung. Mitarbeiter zu impfen, Gesundheitstest zum eigenen Schutz und der Bewohner, all das ist bereits jetzt nach geltenden Gesetzen verpflichtend.

Die Seniorenbeiräte müssen ihre Aufgabe in den Bewohnerbeiräten zur Unterstützung der derzeitigen und zukünftigen Bewohner aktiv wahrnehmen. Die aktuelle Pandemie ist noch nicht ausgestanden, kann sich wiederholen und sollte der Weckruf für alle Bürger sein. Niemand weiß, ob und wann er/sie dement und pflegebedürftig wird. An- und Zugehörige leiden mit.

Sorgen wir gemeinsam vor, zur Sicherung unserer Grundrechte. Fordern wir die Einhaltung der bereits bestehenden Schutzgesetze, gegen eine Stigmatisierung. Wir wollen keine schwedischen Verhältnisse in der Weise: Wer über 81 Jahre ist, erhält keine Beatmung.

Unterstützen wir den Bewohnerbeirat, holen wir ihn ans Licht.

 

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