Soziale Gerechtigkeit – eine Worthülse ?

Das Prinzip der Chancengerechtigkeit ist eklatant verletzt, wenn Chancen von politischen Beziehungen abhängen oder in unvertretbarer Weise von der sozialen Herkunft. Blumige Worthülsen – Jeder ist seines Glückes Schmied – ein leeres  Versprechen?

Wie kommen Menschen überhaupt in der Lage, Chancen wahrnehmen zu können? Wer das Mantra eines Sozialstaates im Munde führt, der sich nicht selbst im Weg stehen will, muss sich der Frage der Chancengerechtigkeit stellen. Die Forderung allein nach der Gerechtigkeit ist ohne Befähigungsgerechtigkeit nicht vollständig. Die Chance der Befähigung, versteht Entwicklung als einen Prozess der Erweiterung realer Freiheiten. Armut bedeutet auch einen Mangel an Verwirklichungschancen. Der Zugang zu Ressourcen und Einkommen ist nur eine Grundlage für Handlungsoptionen. Übersehen oder verschwiegen wird, Menschen benötigen die uneingeschränkten Fähigkeiten, um die Handlungsoptionen, wie Bildung und Fortbildung, überhaupt wahrnehmen zu können. Dazu unsere Beiträge zur Digitalisierung. Diese Möglichkeiten sind durch die vorhandenen Geldmittel in sehr unterschiedlicher Weise verteilt, dies gilt es zur Entfaltung des Einzelnen aufzuheben. Der Befähigungsansatz fokussiert auf die Erweiterung möglicher individueller Verwirklichungschancen, auf die Erschließung von Freiheits- und Teilhabe Spielräumen.

Aber Befähigungsgerechtigkeit bedeutet keine Abkehr von anderen Gerechtigkeitskonzepten, etwa dem der Verteilungsgerechtigkeit. Sie darf die herkömmliche Politik der Einkommenssicherung für Bürger, deren eigenes Einkommen und Vermögen nicht ausreicht, um ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten, nicht ersetzen.

Armutsprävention und die Linderung von Armut und Einkommensunsicherheit gehören zu den Voraussetzungen für eine gelingende Befähigung .Wer mit Befähigung argumentiert, um Grundsicherungsleistungen einzuschränken, missbraucht bewusst den Befähigungsansatz und greift gleichzeitig die Würde des Einzelnen an.

Versuche eines solchen Missbrauchs werden immer wieder unternommen. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn in der Debatte zum Umfang sozialer Sicherung mehr Eigenverantwortung eingefordert wird, aber unklar bleibt, welche sozialstaatlichen Leistungen den durch mehr Eigenverantwortung der hilfeberechtigten Bürger oder ihres Umfeld ersetzt werden können. Einschnitte müssen transparent  begründet werden, statt den untauglichen Versuch zu unternehmen, dies zu bemänteln. An die Kürzungen bei Hartz VI sei erinnert.

  • Ein Missbrauch findet bereits statt, wenn von Politikern – als Repräsentanten der Demokratie – pauschal Eigenverantwortung eingefordert wird, ohne dass sie sich dem Problem stellen und hinterfragen, warum und wie Menschen in die jeweilige  Lage kommen. Die Antwort ist im konkreten Fall stets: „Einzelschicksale gibt es immer!“ 
  • Freiheit und Verantwortung sind untrennbar mit der Vorstellung des Menschen als einem moralfähigen Wesen verbunden und damit sowohl Basis für Freiheitsrechte als auch für Solidarität der Bürger.

Sind diese Gedanken überholt oder bereits geopfert?

Grundsätzlich gilt: Ohne Solidarität gibt es kein System sozialer Sicherung, ohne Befähigung und Eigenverantwortung würde dieses System die Freiheitsspielräume des Einzelnen in unzulässiger Weise einschränken. Ein System sozialer Sicherung, das nicht auf Eigenverantwortung setzt, erzeugt eine Fülle falscher Anreize, die zur Ausbeutung der Solidarität der anderen führen und damit dazu beitragen, die Solidaritätsbereitschaft zu untergraben.

Die Voraussetzung ist: Armut muss aus Sicht der Menschenwürde vermieden werden, Grundsicherung muss als letztes Auffangnetz greifen. Die Hilfe muss so bemessen sein, dass sie das durch die Verfassung gebotene Mindestmaß an sozialer Teilhabe sichert. Ihre Höhe darf nicht willkürlich bestimmt werden, aber sie ist Ergebnis politischer Aushandlung. Arme sind angewiesen auf die Solidaritätsbereitschaft der Gesellschaft. Der Erhalt des breiten Konsenses für eine sozialstaatliche Sicherung, die die Armen  einbezieht, ist selbst ein zentrales sozialpolitisches Ziel. Eine faire Berechnung der Grundsicherung würde, zu einem deutlichen Anstieg des Regelbedarfs führen. Dies würde Grundsicherungsempfängern mehr Flexibilität in ihrer Lebensführung geben, Armut würde besser bekämpft. Politisch hat diese Erhöhung nur eine Chance, wenn in der Debatte zu Armut so viel Sachverstand  im Raum ist, dass der dann unvermeidliche Anstieg der Zahl der Hilfeempfänger den Politikern nicht erneut als Indiz ihres Versagens um die Ohren gehauen würde.

Es wird  weiterhin verdeckte Armut geben, weil Personen aus Scham oder Unwissenheit, die Anspruch auf ergänzende Transferleistungen haben, diese aber nicht beantragen.

Das betrifft insbesondere ältere Menschen mit geringen Renten, die auf ergänzende Grundsicherung im Alter verzichten. Damit dürfen und können wir uns im reichen Deutschland nicht abfinden, der Sozialstaat muss in der gebotenen Weise über soziale Rechte informieren und aufklären. Wenn er hierbei erfolgreich ist, steigt die Zahl der Hilfeempfänger, aber nicht weil die Not größer würde, sondern weil das Hilfesystem verlässlicher greift.

Die Grundsicherung stellt das unterste soziale Netz dar.

Wie oft sie in Anspruch genommen werden muss, hängt auch davon ab, wie straff die ihr vorgelagerten Sicherungsnetze gespannt sind. Wer im Niedriglohnsektor arbeitet und seinen eigenen Lebensunterhalt sichert, sollte nicht deswegen zum Jobcenter müssen um aufzustocken oder weil er Kinder hat. Um das zu verhindern, gibt es den Kinderzuschlag, aber dieses sinnvolle Instrument hat Konstruktionsmängel. Er sollte zu einer verlässlichen einkommensabhängigen Kindergrundsicherung weiterentwickelt werden, die auch Alleinerziehende einbezieht.

Notwendig ist auch, dass das Wohngeld nach einem Regelmechanismus den steigenden Mieten angepasst wird. Sonst wird der Zuschuss schleichend entwertet und es wächst die Zahl derer, die ergänzend auf Hartz IV angewiesen sind oder in die Überschuldung fallen.

Welch ein Ausweg haben Kranke und Alte?

Wer den obigen Befähigungsansatz fordert und verfolgt, muss konsequent sein.

Dann darf Niemand, der privat nach seinen Fähigkeiten für seine Alter vorsorgt, später der Dumme sein, und sein Erspartes bis auf ein Minimum, zum Beispiel bei der Pflege, wieder verlieren, um dann voll abhängig zu sein. Damit auch Menschen, die nur eine Rente unterhalb oder in Nähe der Grundsicherung im Alter erwarten können, privat für ihr Alter vorsorgen und dabei von staatlicher Förderung profitieren können, darf ihnen nicht alles, was sie sich mühsam für das Alter erspart haben, durch die Anrechnung bei der Berechnung der Grundsicherung direkt wieder abgenommen werden.

Abhilfe schafft eine einheitliche Freibetragsregelung, wie sie bereits im  Behindertenrecht gilt. Warum nicht an das Erbrecht oder das Beamtenrecht denken? Sonst hilft die „Riesterförderung“ genau denen nicht, die am dringendsten auf sie angewiesen sind. Die „Große Koalition“ hat die Aufgabe wieder nicht gelöst. Die anstehende Bundestagswahl im September 2021 entscheidet über ein weiter so, Arbeitnehmer opfern sich auf. Dienstleistung mit und am Menschen wird beklatscht aber die Entlohnung zeigt die wirkliche Anerkennung. Prüfen Sie die Bundestagskandidaten und die wirkliche Parteipolitik.

Die Zeit drängt, es gibt unendlich Vieles zu tun: Grundsicherung weiterentwickeln, vorgelagerte Sicherung Stärken. Armutspolitik erfordert einen handlungsfähigen Staat. 

Das Zeitalter der Duldung und Zustimmung ist endlich. „Warum schweigen die Lämmer?“ Rainer Mausfeld gibt auch Antworten zu den drängenden Fragen.  Wenn wir unseren Verstand, unsere Fähigkeiten weiterhin nicht nutzen, besteht die Gefahr, dass wir Heilsversprechern und nicht mehr an die Solidarität glauben. Schnelle Lösungen gibt es nicht, wir müssen uns aktiv für unsere Zukunft und unsere Kinder und Enkel einsetzen.

Wir wünschen allen Lesern ein gesegnetes Weihnachtsfest 2020 und bleiben Sie gesund.

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