Reichen kosmetische Änderungen oder muss die Pflegeversicherung neu gedacht werden?
Viele Alte sind arm, können sich keine altersgerechten Wohnungen leisten, bleiben in ihren Nachbarschaften. Vielen Angehörigen geht es nicht viel anders: Sie pflegen zusätzlich zu Belastungen durch Jobs und andere Sorgearbeit, bekommen ungefähr die Hälfte des Geldes als die Einrichtungen. Hartz-IV-Bezieher*innen, wird das Pflegegeld noch auf die Bezüge angerechnet. Wenn die Parteien diese Probleme angehen, dann wäre ein Stück Ungerechtigkeit aus der Welt. Bisher werden jährlich ad hoc kosmetische Korrekturen im Bundestag beschlossen. Von der Finanzierung für fehlende Pflegekräfte, die nicht ausgebildet sind, bis zur Allgemeinverbindlichkeit von Pflegetarifen. Nicht nur Personal auch Pflegeplätze fehlen. Durch das fehlende Angebot ist ein ausgeglichener Markt auf Dauer nicht gegeben. Der gerade erschienene 7. (Bundes-)Pflegebericht (für die Jahre 2016-2019) schweigt sich über das große Manko aus, zeigt nur Erfolge der Regierung auf. Beim Thema Ausblick auf Seite 70 wird richtigerweise folgendes knappes Szenario beschrieben:
„Der demografische Wandel ist nicht aufzuhalten. Er stellt für alle sozialen Sicherungssysteme und insbesondere für die soziale Pflegeversicherung eine große Herausforderung dar. Die Zahl der Pflegebedürftigen nimmt zu. Wir brauchen mehr Menschen, die pflegebedürftige Menschen beruflich und in der Familie pflegen und betreuen. Dazu zählen Fachkräfte genauso wie qualifizierte Hilfskräfte.“
Stand heute:
Das Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) hat die Eckpunkte der Beitragsstabilität (§ 70 SGB XI) und den Vorrang der häuslichen Pflege (§ 3 SGB XI). Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen
- die Selbständigkeit der Pflegebedürftigen, namentlich in finanzieller Hinsicht,
- insbesondere Vorbeugung und Rehabilitation gegenüber der Pflege fördern und der häuslichen Pflege den Vorzug vor der Pflege im Heim geben.
Die Leistungen werden als Sach- oder Geldleistungen oder in einer Kombination beider Leistungen gewährt.
- Sachleistungen werden den Pflegebedürftigen für die häusliche Pflege oder die Pflege in einer spezialisierten Einrichtung, außerdem die Zurverfügungstellung der erforderlichen Arzneimittel oder Geräte gewährt. Die Leistungserbringer erhalten das Entgelt direkt durch die zuständige Pflegekasse.
- Werden Leistungen durch Verwandte oder Ehepartner der Pflegebedürftigen erbracht oder auch von freiwilligem oder von bezahltem Pflegepersonal. Erhält der anerkannt Pflegebedürftige eine entsprechende Geldleistungen, Pflegegeld nach § 37 SGB XI. Das Wahlrecht des Berechtigten auf eine Sachleistung ist mangels Angebot fiktiv.
Prognosen sind überholt
1997 • 1,7 Mio. Pflegebedürftige, davon 1,24 Mio. (73 %) zu Hause und ca. 453.000 (27 %) in Heimen und vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe • Finanzsituation 1996 Einnahmen 23.5 Mrd. Ausgaben 21,2 Mrd.
2017 • 3,4 Mio. Pflegebedürftige, davon 2,59 Mio. (73 %) zu Hause und ca. 800.000 (27 %) in Heimen und vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe • Finanzsituation 2017 Einnahmen 36.1 Mrd. Ausgaben 38,52 Mrd.
2019 • 4,1 Mio. Pflegebedürftige, davon 3,3 Mio. (80,5 %) zu Hause und ca. 820.000 (19,5 %) in Heimen und vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe • Finanzsituation 2019 Einnahmen 47,24 Mrd. Ausgaben 43,95 Mrd.
Leistungsausgaben 2019 je 10.000 Leistungsbezieher in Mio. €uro
- Ambulant 93 (30,19%),
- stationär 183 (59,42%)
- in Einrichtungen der Behindertenhilfe 32 (10,39%).
Vier von fünf (>80 % bzw. 3,3 Millionen) der anerkannten Pflegebedürftigen wurden zu Hause versorgt. Davon erhielten:
- 2.120.000 Pflegebedürftige ausschließlich Pflegegeld, das bedeutet, sie wurden in der Regel zu Hause allein durch Angehörige oder mit Hilfskräften gepflegt. Weitere
- 980 000 Pflegebedürftige lebten ebenfalls in Privathaushalten. Bei ihnen erfolgte die Pflege jedoch zusammen mit oder vollständig durch anerkannte ambulante Pflege- und Betreuungsdienste. Zusätzliche
- 210 000 Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 ohne Leistungen der ambulanten Pflege-/Betreuungsdienste oder Pflegeheime bzw. mit ausschließlich landesrechtlichen Leistungen wurden im Dezember 2019 ebenfalls zu Hause versorgt. Auch hier ist von einer Unterstützung der Pflegebedürftigen durch Angehörige auszugehen.
Politiker verschließen die Augen
Kinderlosen (Singles) ist ein Mehrbetrag in die Pflegeversicherung nach dem Bundesverfassungsgericht aufzubürden. „Es ist mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden.“ BVerfG, 08.06.2004 – 1 BvR 1629/94 „Dies gilt umso mehr, als mit einem schwindenden Pflegepotential der Töchter und Schwiegertöchter gerechnet (ab hier S. 263) wird. Schon heute ist das Fehlen von Angehörigen nur ein Grund unter mehreren, sich für die Sachleistung zu entscheiden. Fast 90 % der privaten Haushalte, in denen Pflegebedürftige versorgt werden, begründen die Entscheidung für die Pflegesachleistung mit dem Gesundheitszustand der pflegebedürftigen Person oder entsprechenden Empfehlungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung. 73 % wollen mit der Entscheidung für die Pflegesachleistung einer Überlastung der Angehörigen vorbeugen.“
Seit 2018 ist wieder die Notwendigkeit der Heimbedürftigkeit Voraussetzung, damit die Pflegekasse die anfallende Festbeträge nach § 43 SGB XI leistet.
Die Heimentgelte werden mit festen Pauschalen je Pflegegrad mit 59 % aus dem Budget der Pflegeversicherung für Pflegeleistungen abgegolten.
- Die Entgelte für Pflege, Unterkunft und Verpflegung werden zwischen den Einrichtungsträgern als Betreiber und den Pflegekassen nach § 85 SGB XI ausgehandelt, soweit nicht eine Pflegesatzvereinbarung auf übergeordneter Kommissionsebene (über Verbände und Vereinigungen) getroffen wurde (§ 86 SGB XI).
- Die Investitionskosten werden als Verwaltungsakte festgesetzt. Einige Träger verzichten bereits auf die amtliche Festsetzung der Investitionskosten und berechnen den Bewohner die ortsübliche Kaltmiete direkt. Örtliche Sozialhilfeträger übernehmen aus Not die Preisforderungen.
Aus der Not der fehlenden stationären Einrichtungen werden überwiegend Wohngemeinschaften in verschiedenen Angebotsvarianten angeboten, die so im SGB XI nicht vorgesehen sind.
Der Markt reagiert auf die Nachfrage.
Die Geburtenstarke Jahrgänge gehen in Kürze in Rente. 50 Prozent sind bereits heute Singelhaushalte. Für diese Bürger muss rechtzeitig vorgesorgt werden, wenn das Urteil aus 2004 des Bundesverfassungsgerichtes Recht bleiben soll.
Es besteht eine umfassende Versicherungspflicht für alle gesetzlich und privat Versicherten. Das bedeutet, dass jeder, der gesetzlich krankenversichert ist, automatisch in der sozialen Pflegeversicherung versichert ist, und jeder privat Krankenversicherte muss eine private Pflegeversicherung abschließen. Im Jahr 2000 konnte die soziale Pflegeversicherung rund 50,95 Millionen Mitglieder verzeichnen. Seit 2019 bis 2021 beträgt der Beitragssatz der Pflegeversicherung insgesamt 3,05 Prozent, der AG-Anteil liegt bei rund 1,53 Prozent. Seit dem 1. Januar 2005 zahlen Personen ab 23 Jahre und ohne eigene Kinder (nach Eheschließung auch Stiefkinder oder Adoptivkinder) einen Zuschlag zur Pflegeversicherung von 0,25 Prozent ihres Einkommens.
Für 2024 und 2025 wurden bereits zwei Gesetze zur Änderungen im SGB XI verabschiedet.
2020 wurde 11 gesetzliche Änderungen im Monatstakt mit unzähligen Änderungen bestehender §§ und 10 §§ sind neu eingeführt.
2019 waren es 9 gesetzliche Änderungen mit unzähligen Änderungen bestehender §§ und 5 §§ wurden neu eingefügt. 2018 waren zwei Gesetzesänderungen, 2017 wirkte sich das II Pflegestärkungsgesetz (PSG II) stark aus. Übersicht der Änderungen.
Kein Bürger kann den schnellen Änderungen folgen.
Vorschläge der Verbände reagieren auf den Unmut der Bevölkerung. Strukturen werden nicht angetastet „Privat vor Staat“. Kurieren an den Symptomen zur Sicherung der Erlöse und Gewinne müssen Parteien und Bürger verhindern. Es fehlt an einer tragfähigen zugesagten Zukunft auch für die Babyboomer.
In § 2 SGB XI heißt es: (1) Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und Selbst bestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen, auch in Form der aktivierenden Pflege, wiederzugewinnen oder zu erhalten.
(2) Die Pflegebedürftigen können zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger wählen. Ihren Wünschen zur Gestaltung der Hilfe soll, soweit sie angemessen sind, im Rahmen des Leistungsrechts entsprochen werden. Wünsche der Pflegebedürftigen nach gleichgeschlechtlicher Pflege haben nach Möglichkeit Berücksichtigung zu finden.
(3) Auf die religiösen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen ist Rücksicht zu nehmen. Auf ihren Wunsch hin sollen sie stationäre Leistungen in einer Einrichtung erhalten, in der sie durch Geistliche ihres Bekenntnisses betreut werden können.
(4) Die Pflegebedürftigen sind auf die Rechte nach den Absätzen 2 und 3 hinzuweisen.“
Durch den Mangel entsprechender Bettplätze in den Einrichtungen und den notwendigen Pflegekräften, sind die Absätze zwei und drei hinfällig, eine Abhilfe ist nicht in Aussicht.
Anspruch bei fehlenden Pflegekräften
Weiter so
Wer den Vorrang „Privat vor Staat“ beibehalten will, muss auf das freie Spiel der Marktkräfte „Angebot und Nachfrage“ setzen. Dies bedeutet konsequent, dass die Pflegebedürftigen vollumfängliche Vertragspartner werden müssen. Die Versicherten haben allein den Anspruch auf volle Leistung aus der Pflegeversicherung, die Unterscheidung zwischen Sachleistung und Geldleistung entfällt. Über den optimalen Einsatz des Geldes entscheidet nicht die Pflegeversicherung, sondern der mündige Bürger. Dieser Weg wurde von Anfang an in Österreich gewählt und ist aus europäischer Sicht konsequent. Die Anbieter von Pflegeleistungen stehen mit anderen im vollen Wettbewerb. Die Zusatzleistungen jeglicher Art sind Qualitäts- und Wettbewerbsangebote und stehen im alleinigen Risiko der Betreiber. Etwaige Steuermittel, in Form von Wohngeld, Sozialhilfe, entlasten die Pflegebedürftigen. Eine doppelte Subventionierung, mit Möglichkeiten des Missbrauches, entfällt eher. Dieser konsequente Schritt der rechtlichen Ausgestaltung nach dem BGB und den Schutzgesetzen widersetzen sich die Behörden, Pflegekassen einerseits und die Betreiber der Einrichtungen. Es ist ja so bequem monatlich eine Summe auf ein Trägerkonto zu überweisen. Gleichzeitig haben die Träger die gesicherten und erhöhten Erlöse durch die „erhöhte Sachleistung“. So erklären sich die obigen Ausgaben von rund 60 % der Pflegekassen an die stationären Einrichtungsträger, dies bei 20 % der Pflegeleistungen über alle anerkannten Pflegebedürftigen.
Daseinsvorsorge
Wer die Pflege als notwendige Daseinsvorsorge des Staates begreift, muss die eingesetzten Mittel schnellstens entsprechend kontrollieren und sanktionieren. Die Doppelstruktur Krankenkasse mit angehängter rechtlich abhängiger Pflegekasse ist zur einer einheitlichen Gesundheitsversorgung zurückzuführen.
Chancen erkennen, Herausforderungen meistern.
Mit diesem Beitrag zeigen wir die bestehende Situation auf. Es reicht nicht mehr den Politikern allein das Vertrauen auszusprechen, sie werden es nicht richten. Die Blockadehaltung zeigt sich deutlich im Bundeskanzleramt mit Minister Helge Braun (CDU). Dieser verweist auf die steigenden Kosten und dem damit verbundenen Diskussionsbedarf in der fehlenden Umsetzung in der zu Ende gehenden Legislatur. Teildiskussion werden nach dem Prinzip geführt: Teile und Herrsche.
Zur Klarstellung:
Nicht die Versicherten oder Pflegebedürftigen erpressen den Sozialstaat. Solange keine Sanktionsmöglichkeiten gegen die Einrichtungsbetreiber nach dem SGB XI auch im Blick auf die PflegebuchführungsVO gegeben ist, ist und bleibt die stationäre Pflegeeinrichtung ein lukratives Invest.
Eine umfassende und tiefgreifende Pflegereform ist nötig. In der aktuellen Diskussion sind
Reformkonzepte
- Modell eines „Sockel-Spitze-Tauschs“ von den Grünen und den Sozialverbänden unterstützt
- Vollversicherung, die von der Linkspartei, der SPD und dem DGB favorisiert wird,
- CDU/CSU gegen Steuerfinanzierung der Pflegereform
Mitverantwortung
Warten wir nicht länger auf die Interessenvertreter! Seien wir unsere eigenen Lobbyisten, nehmen wir unsere Mitverantwortung wahr, bestimmen wir mit, bringen wir uns ein. In Kürze (16.6.) stellen wir ein Geriatrie- und Demenzkonzept vor.
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