Senioren sollen ihren Lebensabend in der Familie verbringen

Sind die Altenheime noch zeitgemäß?

Am Lebensabend ins Pflegeheim? Für die meisten Deutschen eine Horrorvorstellung, ihr ganzes Leben aufgeben zu müssen. Trotzdem werden immer neue Einrichtungen gebaut, obwohl es längst anders ginge.

Stellen Sie sich vor: Morgen früh wachen Sie auf, und plötzlich können Sie Ihr Bein und Ihren Arm nicht mehr bewegen, nicht mehr aufstehen, vielleicht sogar nicht mehr sprechen, Schlaganfall. Sie werden sofort ins Krankenhaus eingeliefert, doch die Ärzte sagen: Das war’s, Ihr Zustand ist irreversibel, finden Sie sich damit ab. Sie können ab sofort rein gar nichts mehr ohne Hilfe tun. Sie brauchen einen  Rollstuhl Sie können sich keinen Pullover mehr über den Kopf ziehen, noch nicht einmal mehr zur Toilette gehen. Vielleicht leben Sie allein, vielleicht wollen Sie Ihre Kinder nicht damit behelligen, sich ab sofort um Sie kümmern zu müssen. Also: Pflegeheim.

Ihr Leben findet ab sofort auf fünfzehn (15) Quadratmetern statt, Ihrem Heimzimmer. Also kommt jemand, vielleicht ein Entrümpler, und räumt Ihre Altbauwohnung aus. Ihre geliebte Porzellansammlung? Die Möbel, die Sie nach und nach, vielleicht mühevoll zusammengestellt haben? Die Bilder an den Wänden? Zu viel, zu sperrig. Die teure Hi-Fi-Anlage? Würde vielleicht ins Zimmerchen passen. Aber laut aufdrehen, das geht wohl nicht im Altenheim. Das ganze Leben, aufgelöst.

Dann kommen die Ängste, man hat so viel gelesen schon, dass die Menschen in den Heimen oft unterernährt seien, manche regelrecht ausgetrocknet, weil den Pflegern die Zeit fehle, beim Trinken zu helfen. Dass Menschen im eigenen Kot liegen gelassen würden, weil völlig überlastete Pfleger es einfach nicht schneller schafften, die Inkontinenzeinlagen zu wechseln. Überforderung, Gewalt auf beiden Seiten, Ruhigstellung mit Pillen. Wird Ihr Heim eines dieser schlechten Heime sein, in dem das Personal derart schlampig geplant wird, dass es zu all diesen Missständen kommt? Oder wird es ein gutes sein, in dem genug Zeit für alles da ist, in dem liebevoll gepflegt wird? Sie wissen es nicht.

Es gibt Bewertungen, ja, es gibt Pflegenoten und jede Menge Aufseher unterschiedlichster Institutionen, die regelmäßig Dienstpläne und vieles andere überprüfen. Doch gleichzeitig weiß man mittlerweile, dass all diese Prüfsysteme in Deutschland oft genug versagt haben, und in makellos erscheinenden Heimen in Wahrheit skandalöse Zustände herrschten. Das Pflegeheim ist eine Blackbox.

Selbst wenn Sie ein gutes Heim erwischen sollten: Werden Sie sich dort wohlfühlen, Tür an Tür, Tisch an Tisch mit all den Fremden, die ab sofort ihre Wohngruppe bilden, mit denen Sie aber rein gar nichts gemein haben außer ihrer körperlichen Einschränkung? Werden Sie mit dem Statusverlust klarkommen, damit, gestern vielleicht noch Hochschuldozentin gewesen zu sein, Consultant oder Anwältin – und heute von einer 20-jährigen Pflegeschülerin den Takt vorgegeben zu bekommen, die in Ihnen einfach eine tattrige Omi sieht und schlimmstenfalls mit Babystimme zu Ihnen spricht? Aufstehen und waschen, wenn die Pflegerin Zeit hat?

Sie sind ausgeliefert. Das Altenheim ist ein angstbesetzter Ort. Neun von zehn Deutschen, ergab erst jüngst wieder eine Umfrage des Bayerischen Rundfunks, fürchten sich davor.

Es ist an der Zeit, eine grundlegende Systemfrage zu stellen: Hat das Modell Altenheim ausgedient?

Es gibt einen Mann, der schon seit Jahren die Abschaffung der Heime fordert, der bekannte Hamburger Psychiater Klaus Dörner. Wer alte Menschen dorthin abschiebt, argumentiert er, verletzte ihre Menschenrechte. Schließlich, findet Dörner, würden die Alten dort abgeschottet, segregiert, aus den Familien herausgelöst. Die Geschichte gibt ihm recht: Altenpflegeheime waren ursprünglich eine Weiterentwicklung der Armenhäuser und Siechenhäuser des 19. Jahrhunderts, in die jene am Lebensende mussten, die weder Geld noch Familie hatten. Damals allerdings gab es die heutigen Sozialsysteme noch nicht, die doch eigentlich verhindern sollen, dass Kranke und Schwache aus dem Sichtfeld genommen werden. Dörner ist ein Radikaler, viele in der Branche nehmen ihn nicht ernst. Dabei ist sein Gedanke, die vollstationäre Pflege abzuschaffen, alles andere als abwegig, finden auch immer mehr Pflegewissenschaftler. Zumindest für den Großteil der Pflegebedürftigen.

Die deutsche Pflegeversicherung

Die Idee, die hinter der deutschen Pflegeversicherung (SGB XI) sei 1995 steht, ist die: Die Leistungen sollen den Pflegebedürftigen helfen, ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. So steht es im Sozialgesetzbuch, und folgerichtig müsste das Heim als Endstation eines Lebens die absolute Ausnahme sein. Eine nur für die allerschwersten Fälle. Jene zum Beispiel, die komplett bettlägerig sind, mehrmals am Tag von mehreren starken Armen umgebettet werden müssen, damit sie sich nicht wundliegen. Oder jene, die rund um die Uhr von Maschinen beatmet werden müssen. Trotzdem leben momentan fast zwei Millionen Menschen in einer solchen Einrichtung, viel zu viel, nimmt man den Grundsatz, vom selbstbestimmten Leben beim Wort. In welchem Heim kann man schon selbst entscheiden, was man essen möchte, wie laut man Musik hört, wohin man spazieren fährt? Und trotzdem werden immer weiter neue Heime gebaut. Es gibt dafür Kredite von der KfW und Fördergelder von den Bundesländern. Davon profitieren auch internationale Finanzinvestoren, die in den vergangenen Jahren viele deutsche Pflegeheime aufkauften.

Förderung von Pflegeimmobilien

Über die Förderung von Pflegeimmobilien versickern somit jedes Jahr Millionen öffentlicher Gelder in die Taschen privater Investoren, die an anderer Stelle eigentlich dringend gebraucht würden. Zum Beispiel für höhere Gehälter der Pfleger*innen was wiederum Voraussetzung wäre, damit mehr Schulabgänger sich für diesen Beruf entscheiden. Warum bauen wir immer noch Pflegeheime? Es gibt längst bessere Alternativen. Sich zu Hause pflegen lassen zum Beispiel, was längst nicht mehr heißen muss, dass die Verantwortung allein an Kindern und Ehefrauen hängt. Die Pflege lässt sich heute gut auf einen Mix aus Familie, Pflegediensten und Ehrenamtlern aufteilen.

Geht nicht, ruft die Pflegeheimlobby reflexartig, wenn diese Debatte aufbrandet: Den Angehörigen verlange das viel zu viel ab, die Pflegedienste seien schließlich nur ein paar Minuten am Tag da, die Alten vereinsamten in ihren Wohnungen, während sich ihre Töchter, Ehefrauen, Schwiegertöchter zwischen Job und Pflege aufreiben müssten.

Richtig, das stimmt aber eben nur zu den Bedingungen des Status quo. Es gibt zu wenig Geld für die ambulanten Pflegedienste im Land, und deshalb gibt es dort vielerorts zu wenige Pfleger*innen. Deshalb finden manche Familien niemanden, der ihren Vater oder Mutter abends ins Bett bringt. Leitete die Bundesregierung aber Geld um, gäbe es also mehr Geld für ambulante Pflege und dafür weniger für Heime, sähe es anders aus. Siehe unser Beitrag vom 19.11.21 „Geld ist genug im System“

Skandinavien und die Niederlande haben es vorgemacht und das System umgekrempelt: Dort fließt der Großteil des Pflegebudgets in ambulante Pfleger*innen, die ins Haus kommen, sich einen Großteil des Tages um die Menschen kümmern und die Angehörigen entlasten, die ihre Arbeit nachgehen können. Trotzdem bleiben in diesem System die Familien zusammen. Je mehr eigentliche Pflegearbeit ihnen abgenommen wird, umso entspannter ist das Zusammenleben, umso weniger Druck ist da, den Ehemann, die Mutter oder den Bruder in ein Heim abgeben zu müssen.

Denn auch das verursacht immens viel Leidensdruck, das Gefühl, es als Angehöriger nicht mehr geschafft zu haben und ein Familienmitglied letzten Endes abgeschoben zu haben.

Auch in Deutschland gibt es längst Ansätze für solche Mixturen

Mischungen zwischen Pflege in der Familie und Profi-Pflege, die es möglich machen, zusammenzubleiben, ohne dass die gesunden Familienmitglieder unter der Last einknicken. Tagespflegeeinrichtungen zum Beispiel, in denen Pflegebedürftige die Zeit verbringen, während der Rest der Familie arbeitet.

Technische Überwachungssysteme, die dafür sorgen, dass Demenzkranke, die darauf keine Lust haben, sondern lieber zu Hause bleiben, trotzdem sicher sind. Es gibt sogar Modellversuche mit Pflegefamilien, die statt eines Pflegekindes einen Senior bei sich aufnehmen.

Sicher, jene, die jahrelang ein demenzkrankes Familienmitglied gepflegt haben, kommen vielleicht trotz alledem irgendwann an den Punkt, an dem sie dankbar sind, die Verantwortung abgeben zu können. Aber auch dann gibt es Alternativen zum Einheits-Heim. Betreutes Wohnen, barrierefrei, in dem man sich jede Leistung einzeln hinzubuchen kann, die Hauswirtschaft, die Tagespflege, das Einkaufen, die medizinische Versorgung. Das Charmante an dieser Idee: Man bleibt selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden. 

Wir müssen uns trauen, neu zu denken, bei den Opfern von Gewalt und schweren Pflegefehlern!

36.000 Menschen, so viel wie die Bewohner einer Kleinstadt, leiden laut offiziellen Schätzungen in deutschen Pflegeheimen Hunger oder Durst, weil niemand Zeit hat, ihnen beim Essen oder Trinken zu helfen. 14.000 Menschen werden an Bett und Rollstuhl gefesselt, ohne dass die Pfleger dafür eine Genehmigung haben. Fast eine Viertelmillion Demenzkranker wird mit Psychopharmaka ruhiggestellt. Harte Strafen, etwa Berufsverbote, gibt es in der Altenpflege dennoch fast nie. Die deutsche Gesetzgebung sieht das einfach nicht vor.

Ihre Meinung ist gefragt. Zum gleichen Thema bieten wir das Seminar: „Sorglos und unbeschwert im Alter leben“ vom 18. Juli 2022 in Königswinter an. Es kann bereits gebucht werden. Planen Sie Ihre anerkannte Weiterbildung.

 

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