Kann/will der freie Markt Care Arbeit leisten?

Die Eigenheiten in der Care-Ökonomie zeigen deutliche Widersprüche auf. Die Care Arbeit ist mehr als die Pflege nach SGB XI oder SGB V.

Ein Beitrag mit erweitertem Blick in der Diskussion zur Insolvenzen der Privatkonzerne und zur Krankenhauskonzentration und darüber hinaus. Folgebeitrag von: Pflegeeinrichtungsbetreiber nutzen die Chance

Mit dem Care-Begriff werden Arbeiten wie die Betreuung von Kindern, Behinderten oder von pflegebedürftigen Betagten oder die Haushaltsarbeiten, Kochen, Putzen und auch Betreuung beschrieben, also die (zu Millionen privat erbrachte) Bereitstellung einer Grundinfrastruktur des täglichen Lebens, auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. Die Care-Ökonomie ist quantitativ von umfassender aber nicht statistisch erfasster Bedeutung: Die Summe der geleisteten Care-Arbeit ist grösser als die Summe aller übrigen Arbeit zusammen! Ausgehend von diesem sehr hohen Niveau nimmt der Anteil dieser Care-Arbeiten am Total aller geleisteten Arbeit zudem gegenwärtig nochmals zu, unter anderem, weil die Zahl unterstützungsbedürftiger betagter Menschen bis 2050 in Deutschland und Europa steigt. Von den längeren und weiteren Wegen durch die Krankenhauskonzentration ganz zu schweigen.

Das „Problem“: Care-Arbeit lässt sich kaum in der Gänze erfassen. Denn Zeit ist gewissermaßen die Grundwährung der Care-Arbeit. Ein Kind wird nicht schneller erwachsen, auch wenn noch so viel Kapital investiert würde. Heilungsprozesse und Sorgearbeit brauchen ihre Zeit, wenn sie gelingen sollen. Und ein guter Teil der Care-Arbeit ist beziehungsbasiert: Ohne ein grundlegendes Vertrauen misslingt die Betreuung von Kindern ebenso diejenige von Langzeitpatienten. Nicht nur die Pflege selbst, auch die Pflege von Beziehungen aber braucht Zeit.

In der Marktwirtschaft ist Zeit das größte Hindernis, eine Art Grundwiderstand, der bekämpft wird, um rascher, schneller, höher, weiter zu kommen. Zeit muss in Geld umgewandelt werden. Wird sie das nicht, wird sie zur verlorenen Zeit. Care-Arbeit widersetzt sich deshalb dem Kernprozess der Rationalisierung und Produktivitätssteigerung. Eine Steigerung des relativen Mehrwerts ist nicht – oder nur sehr beschränkt – möglich. Die Gewinne sollen deshalb hauptsächlich auf dem Weg der absoluten Mehrwertsteigerung erhöht werden, etwa indem Pflegedienste innerhalb von kurzen, normierten Zeitvorgaben erbracht werden müssen oder von nicht befugtem Personal. In letztem Fall ist formal der Betrug gegeben und geht zulasten der Qualität der Care-Arbeit. Formal sind  strafrechtliche Grenzen gesetzt und werden nicht geahndet, sowenig eine Minderung des Preises durchgesetzt wird. Wer es versucht, erkennt die Schutzmechanismen. Ausgerechnet der bedeutendste und am stärkste wachsende Sektor der Ökonomie ist deshalb nicht geeignet, die strukturellen Probleme der Kapitalverwertung zu lösen, sondern trägt seinerseits zu deren Verschärfung bei. Wer das Heil in der Gemeinnützigkeit sieht, vergisst die fehlende soziale Kontrolle. Von den fehlenden Fachkräften durch fehlende betriebliche Ausbildung und deren Ursachen zu schweigen.

Die Volks- und Betriebswirtschaft geht von einem stabilen, dynamischen Gleichgewichtssystem von Angebot und Nachfrage aus, das sich krisenfrei entwickelt, solange keine Störungen von außen eintreten. Die Unternehmen befinden sich in einem oft unerbittlichen Krieg um Marktanteile und um einen möglichst hohen Gewinn. Das Bürgerliche Gesetzbuch aus 1899 geht von gleichberechtigten Vertragspartner aus. Der notwendige Schutz für den Pflegebedürftigen wurde formal durch das SGB XI geregelt. Die Preisverhandlung und Qualitätssicherung obliegt allein den Pflegekassen. Die Entgelte können nur mit schriftlicher Zustimmung des Bewohnerbeirates (§ 85 Abs.3 SGB XI) in Vollzug gesetzt werden. Es wird nicht auf das ordentliche Zustandekommen der Unterschrift abgehoben, nur auf eine Unterschrift.  Pflegeeinrichtung und Pflegekassen verhandeln so zu Lasten Dritter ein sogenanntes dynamisiertes „Sachleistungsentgelt“.  Die Geldleistung wurde seit 2017 nicht mehr verändert und verliert neben der Inflation auch im Bezug zum Sachleistungsentgelt jährlich an Wert.

Der ordnungsbehördliche Schutz nach den Wohn- und Teilhabe-Gesetzen der Länder gilt formal den Bewohnern oder deren Angehörige. Beschwerden werden als unberechtigt abgetan oder den Betreibern wird eine preiswerte Beratung angeboten. Wer in den zweijährigen WTG-Berichten stöbert, wird sehr selten Beratung der Bewohnerbeiräte oder Angehörige finden. 

Die Gewinne können durch weitere Konzentration und Rationalisierung selten gewährleistet werden. Das „Problem“: Care-Arbeit lässt sich kaum rationalisieren. Denn Zeit ist gewissermaßen die Grundwährung. Die bundesweite  Insolvenzwelle der stationären und ambulanten Pflegedienste hat nicht erst jetzt begonnen. Die Medien sehen die großen Insolvenzen in Eigenverwaltung, problematisieren nicht die Ursachen.  Kommunale Krankenhäuer werden weiter für einen symbolischen Euro privatisiert. Die Krankenhauslandschaft soll zur Sicherung der Erlöse reformiert werden. Die OECD kritisiert, dass man in Deutschland einerseits 4.300 Euro pro Kopf für die Gesundheit ausgibt (so viel wie kein anderes EU-Land), die Anzahl der vermeidbaren Sterbefälle jedoch nur leicht unter dem EU-Durchschnitt liegt. Mit einer höheren Versorgungsqualität könnte man dem entgegenwirken. Die Bundesländer sind für Investitionen der Krankenhäuser zuständig, nicht für die Pflegeeinrichtungen. In NRW haben die Kreise und kreisfreien Städte die Planungshoheit, die sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Ein Eingriff in die unternehmerische Freiheit verbietet sich nach dem Selbstverständnis der Parteienvertreter aus den fehlenden öffentlichen Gelder.  Böse Zungen behaupten: Investoren haben Narrenfreiheit.

Die Pflegekonzerne verabschieden sich aus der gesetzlichen stationären Heimpflege, oft durch Insolvenz. Sie flüchten in sogenanntes „Betreutes“ oder „Service-Wohnen“. Statt eines überprüften Vertrages werden drei gesonderte Verträge dem zukünftigen Bewohner vorgelegt. Wer denkt an die Arbeitnehmer etc.

Kann das Pflegeversicherungsgesetz weiterhin Bestand haben?

In § 12 SGB XI heißt es: „Die Pflegekassen sind für die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung ihrer Versicherten verantwortlich.“ Zuvor heißt es in § 11 SGB XI „Die Pflegeeinrichtungen pflegen, versorgen und betreuen die Pflegebedürftigen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse. Inhalt und Organisation der Leistungen haben eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten.“

Stehen uns englische Verhältnisse bevor?

Für die Immobilien werden pflegetäglich Investitionsgelder eingenommen aber nicht entsprechend verwandt. Kontrollen sind unerwünscht. Einzelbilanzen gehen in Konzernbilanzen unter. Dach und Fach verfallen. Stationäre Einrichtungen für ein bestimmtes Klientel wird es weiterhin geben müssen. Die Städte und Kreise werden gezwungen sein, die (Schrott-) Immobilien zur weiteren, notwendigen Unterbringung zu erwerben.

Wir haben bisher noch nicht vertieft, dass 87 % der anerkannt Pflegebedürftigen zu Hause von Angehörigen gepflegt werden müssen, dies zu der Hälfte des Pflegesachleistungsbetrages. Dazu kommt, dass für eine ausreichende Pflege, rund um die Uhr, 6 Vollzeitstellen benötigt werden. Die Kompensation in der Häuslichkeit kann nicht angewandt werden. Wir brauchen einen neuen Weg.

Wenn wir nicht länger akzeptieren wollen, dass die Angehörigen krank und gebrochen das Ableben des zupflegenden Angehörigen insgeheim herbeisehnen, brauchen wir schnellsten einen tragfähigen Ansatz in der Care Arbeit.

Die gewählten Parteienvertreter in der Politik haben sich an den Zustand gewöhnt. Gesetze werden oft nicht aus Erkenntnis sondern auf Druck der Opposition nachgebessert. Formale Ansprüche werden in der Umsetzung dann nicht gewährt. Wer spricht davon, dass jährlich 12 Mrd. € den Pflegebedürftigen in der Häuslichkeit durch die Pflegekassen den schwächsten Gliedern vorenthalten werden. Fangen wir damit an, alle Parteien unserer Gesellschaft gleichermaßen ernst zu nehmen und die Bürger mitzunehmen. Wir müssen uns gemeinsam auf Augenhöhe miteinander auseinandersetzen, ein weiteres Abwarten auf „die da Oben“ löst keine Zukunft.

Ermächtigen wir uns selbst, statt in der Opferrolle zu verharren.

Fragen wir unsere Abgeordneten in Bund und Land nach Ihrer Meinung, verweisen sie auf Experten, stellt sich die Frage nach ihrer Verantwortung für uns.  

Fragen wir die Ratsvertreter, die Mitglieder im Sozialausschuss, die Seniorenbeiratsmitglieder nach dem Planungsstand in der Kommune noch vor den Sommerferien. Oft haben die Gremienvertreter nach eigenen Angaben keinen Einblick, keine Informationen und müssen die Verwaltung fragen. Fragen Sie nach dem letzten WTG-Bericht, der Altenplanung, der Kommunalen Konferenz Alter und Pflege und den Stellungnahmen der jeweiligen Parteien.

Jede Person hat das Recht auf Informationen aus Politik und Verwaltung. FragDenStaat hilft Ihnen dabei, Ihr Recht durchzusetzen.

Wir bleiben am Ball mit einem weiteren Beitrag:

Care – im Quartier

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1 Gedanke zu „Kann/will der freie Markt Care Arbeit leisten?“

  1. Der Beitrag erscheint aktuell am Tag der Nachbarn und der Bundestag verabschiedet das Pflegegesetz.
    Alle wissen, dass damit die Probleme der Pflege nicht gelöst werden. Heute ist auch Tag der Nachbarn, und das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) nimmt dies zum Anlass, für Nachbarschafts-Netzwerke mit professioneller Unterstützung zu werben.
    Die Betreuung und Versorgung von Menschen mit möglichem Hilfe- und Pflegebedarf sind eine der großen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte.
    Die Entstehung von Nachbarschafts-Netzwerke darf kein Zufall sein.

    Die Stärkung der regionalen Gesundheitsversorgung ist ein im Koalitionsvertrag sowie den aktuellen Gesetzesvorhaben verfolgtes Ziel der Bundesregierung.
    Es fehlen Taten!

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