Grundeinkommen als Grundrecht

Die Mindestlohnkommission ist von der Regel abgewichen

Sie schlägt vor, den Mindestlohn in vier Stufen bis Juli 2022 auf 10,45 Euro je Stunde zu erhöhen. Bei einer strikten Tariforientierung hätte sich ab Januar 2021 ein Mindestlohn von 9,82 Euro je Stunde ergeben. Diese Höhe soll der Mindestlohn jedoch erst ein Jahr später erreichen, sodass die Unternehmen in der Coronakrise eine relative Kostenentlastung erhalten. Mit den beschlossenen Erhöhungsschritten ergibt sich im Durchschnitt der Jahre 2021 und 2022 also in etwa der gleiche Wert, wie er sich bei der Orientierung an der Tarifentwicklung ergeben hätte. Gleichwohl wird der regelbasierte Wert in der zweiten Jahreshälfte 2022 um mehr als 6 Prozent überschritten. Dies wäre langfristig relevant, wenn die nächste Erhöhung 2023 auf 10,45 Euro und nicht auf 9,82 Euro aufsetzen wird.

Am 30 Juni veröffentlichte die Mindestlohnkommission schließlich einen Vorschlag, wonach der Mindestlohn von derzeit 9,35 Euro pro Stunde ab dem 1. Januar 2021 auf zunächst 9,50 Euro und danach im jeweils sechsmonatigen Abstand auf 9,60 Euro, 9,82 Euro und 10,45 Euro steigen soll. Die umgehend von der Bundesregierung begrüßte Empfehlung der Mindestlohnkommission trägt dabei alle Züge eines klassischen Kompromisses, bei dem beide Seiten Zugeständnisse machen mussten und zugleich Erfolge verbuchen konnten. Für das Jahr 2021 kamen die Gewerkschaften zunächst der Arbeitgeberseite entgegen und stimmten einer Erhöhung auf 9,50 Euro beziehungsweise 9,60 Euro zu, die etwas unterhalb einer möglichen Anpassung des Mindestlohns an den Tarifindex liegt. Letzterer wird mit 9,82 Euro erst zum Januar 2022 erreicht. Dafür mussten die Arbeitgeber einer vergleichsweise kräftigen Anhebung des Mindestlohns auf 10,45 Euro im zweiten Halbjahr 2022 zustimmen.

Die Bestrebungen, den Mindestlohn Richtung 12 Euro zu erhöhen, werden vor allem damit begründet, dass der Mindestlohn existenzsichernd sein soll. Nimmt man analog zur Definition von Armutsgefährdung der Europäischen Kommission 60 Prozent des mittleren Einkommens als Schwellenwert zur Armutsvermeidung, käme man nach Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbunds für 2020 beim Bruttostundenlohn auf einen Wert von 11,99 Euro. Die Partei Die Linken beziffert den Stundenlohn, der notwendig wäre, um einen Beschäftigten nach 45 Beitragsjahren unabhängig von Grundsicherung im Alter zu machen, auf 12,63 Euro. Inzwischen beeinflusst die 12-Euro Debatte auch die Tarifpolitik. So hat beispielsweise die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten in der Systemgastronomie eine Lohnuntergrenze von 12 Euro gefordert, um Altersarmut zu vermeiden.

Eine vorschnelle Anpassung des Mindestlohn auf 12 Euro je Stunde hätte nicht nur negative Auswirkungen auf die Höhe der Beschäftigung, sie würde auch in unverhältnismäßiger Weise in die Tarifautonomie eingreifen. Der Vorsitzende der Mindestlohnkommission, Jan Zilius, stellte dazu in einem Interview fest: Von heute auf morgen den Mindestlohn auf zwölf Euro anzuheben, wäre höchst problematisch. Weil wir dann eine Überholung von laufenden Tarifverträgen in einem Umfang hätten, der mit unserer im Grundgesetz vereinbarten Tarifautonomie nicht mehr viel zu tun hätte. Anders ausgedrückt: Wir würden mit einer zu schnellen Erhöhung auf zwölf Euro die Tarifverhandlungen für untere Lohngruppen obsoler machen. Auch auf die zukünftige Altersarmut hätte ein Mindestlohn von zwölf Euro kaum Einfluss. Denn die neu eingeführte Grundrente nivelliert gerade im unteren Lohnbereich die Rentenansprüche. Mit der ab 2021 geltenden Grundrente ergibt sich nach den Durchschnittseinkommen und dem Rentenwert von 2019 mit dem zu diesem Zeitpunkt gültigen Mindestlohn von 9,19 Euro je Stunde nach 35 Beitragsjahren ein Rentenanspruch von 878 Euro. Bei einem Mindestlohn von zwölf Euro wären es mit 899 Euro nur gut 20 Euro brutto mehr. Nach 45 Beitragsjahren ist der Abstand mit 68 Euro brutto etwas größer, da die Grundrente nur für 35 Jahre die Beiträge aufstockt.

Trotz pandemiebedingt steigender Armut und digitalisierungsbedingt beschleunigtem Wandel von Arbeitswelt und Lebenswelt gilt es für das bedingungslose Grundeinkommen derzeit keine parlamentarischen, sondern nur Umfragemehrheiten. Und es gibt außer in der Schweiz gegenwärtig auch keine Möglichkeiten, strittige Grundsatzfragen von Verfassungsrang direktdemokratisch zu entscheiden. Das heißt freilich nicht, dass das immer so bleiben muss und es heißt auch nicht, dass wir uns hierzulande nicht längst auf dem Weg in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens befinden. Mit Kindergeld und Grundrente kennen wir bereits mehr oder weniger bedingungslose Sozialleistungen am Lebensanfang und Lebensende. Das Bundesverfassungsgericht hat das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums mehrfach bekräftigt zuletzt, indem es die Hartz-IV-Sanktionen für teilweise verfassungswidrig erklärte. Darüber hinaus lassen sich Maßnahmen wie die zunehmende Steuerfinanzierung ursprünglich beitragsfinanzierter Sozialleistungen als oft uneingestandene und halbherzige Schritte auf einem Weg interpretieren, der zum bedingungslosen Grundeinkommen führt.

Dennoch: Auch mehr oder weniger bedingungslos etablierte und steuerfinanzierte Sozialleistungen sind von einem bedingungslosen Grundeinkommen  begrifflich scharf zu trennen. Und wer vorgibt, ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen, obwohl er entweder dessen Betrag zu niedrig ansetzt oder dessen Auszahlung an diese Not oder jene Tugend knüpft, der führt ein trojanisches Pferd zur Durchsetzung grundeinkommensfremder Ziele ein. Ganz egal, wie ehrenwert diese Ziele sein mögen, ob es sich dabei um nachzuweisenden Bildungserfolg (etwa Schule oder Hochschulabschlüsse), nachzuweisende Gesundheitsvorsorge (etwa Impfungen) oder nachzuweisendes Wohlverhalten (etwa Vorstrafenfreiheit) handelt, ein Grundeinkommen, das darauf Rücksicht nimmt, ist kein unveräußerliches Grundrecht, sondern fungiert wahlweise als Belohnung oder Bestrafung.

Eine besondere Pointe der Grundeinkommensforderung besteht schließlich darin, dass seine Einführung der Gesellschaft sowohl einen gesteigerten Individualismus als auch gesteigerte Solidarität abverlangt. Eine dominant individualistische Gesellschaft wird niemals die Solidarität aufbringen, allen und das heißt aus Sicht des Einzelnen vor allen anderen ein bedingungsloses Grundeinkommen zuzugestehen, Umgekehrt wird eine dominant solidarische Gesellschaft die Individuen niemals so freilassen, wie es die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommen ermöglicht, lässt sich nur dann verwirklichen, wenn sich die Gesellschaft zugleich solidarischer begreift. Und die Solidarisierung der Gesellschaft, die das Grundeinkommen ermöglicht, lässt sich nur dann verwirklichen, wenn das Individuum zugleich individualistischer begriffen wird.

Praktisch heißt das: Will ich die Freiheiten eines bedingungslosen Grundeinkommens für mich selbst in Anspruch nehmen, muss ich bereit sein, sie allen anderen ebenfalls zuzubilligen. Ich muss mich nicht nur für meine eigene, sondern gleichermaßen für die Freiheit der anderen einsetzen. Der neue Gesellschaftsvertrag, den das bedingungslose Grundeinkommen erforderlich macht, umfasst sowohl Freisinn als auch Gemeinsinn, Eigeninitiative ebenso wie Interesse am anderen. Wenn wir diese Bedingtheiten eines bedingungslosen Grundeinkommens berücksichtigen und willens sind, ihnen Rechnung zu tragen, dann muss seine Forderung nicht länger utopisch bleiben von 15,30 Euro Grundeinkommen.

 

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