Die fehlende Kontrolle und ihre Folgen

Folgebeitrag zu „Geld ist genug im Pflege-System!

„Die Leistungen der Freien Wohlfahrtspflege sind systemrelevant.“

so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands  (DPWV). Gilt die Aussage für die Pflege, muss die gesundheitliche Versorgung grundgesetzlich geschützt und in ein solidarisches, verantworteste Vergabeprinzip eingebettet werden, ohne Gewinnzuschläge.  Ein Umdenken ist angesagt; weitere Reparaturversuche verschlimmern, verteuern weiter die Pflege. 

In Pflegeeinrichtungen fließen (ab 2024 sind jährlich 66 Mrd. € in den Kassen) Milliarden Euro aus der Pflegeversicherung, den Renten der Bewohner und die Restkosten durch die Sozialhilfe. Grundlage sind mit den Pflegekassen verhandelte Entgeltvereinbarungen, aufgebaut auf glaubhaft vorgebrachten Wünschen der Einrichtungsträger, ohne dass nachprüfbare Qualitätsstandards mit Rückforderungsklauseln, z.B. bei fehlenden Pflegekräften, gegeben sind.

Zur Klarstellung: auch die Gelder in der Pflegeversicherung wurden von den Arbeitnehmern und damit direkt durch die Bewohner vormals eingezahlt. Die Gesamteinnahmen werden durch fehlende Kontrolle und Sanktionsmöglichkeiten der Betreiber im laufenden Betrieb, durch überhöhte Mietzahlungen oder Zahlungen an den Konzern direkt oder indirekt verwirtschaftet. Die Verantwortlichen in den Kommunen, zahlen die fehlende und ständig steigenden Differenzkosten der Bewohner aus der Sozialkasse nach SGBXII, nehmen aber zuvor die Möglichkeiten der Anwesenheit bei den Verhandlungen nicht wahr, schauen zu. Die Gremienvertreter nehmen die steigenden Kosten der Sozialhilfe als unvermeidlich, gar Gott gegeben, bei der Haushaltsberatung zur Kenntnis, eine direkte Betroffenheit ist nicht ersichtlich. Die Richtigkeit wird gläubig unterstellt. Warum sich der Mühe unterziehen und die Bewohnerbeiräte im Vorfeld der Entgeltfindung nach § 85 SGB XI unterstützen und sich ein eigenes Bild machen. Zugegeben ein schwieriges Unterfangen bei kommunalen und caritativen Pflegeeinrichtungen, wenn Parteienvertreter die Aufsicht im Gremium und bei der Bestellung der Geschäftsführung haben.

Das Gesetz zur Pflegeversicherung (SGB XI) ist aus juristischer Sicht durchdacht und für Investoren gelungen. Der einfache Bundestagsabgeordnete, der Gremienvertreter, vom Landtagsabgeordneten bis zum Aufsichtsratsmitglied, der Bürger sieht ein wohldurchdachtes und ausgewogenes Gesetz mit den dazugehörigen Verordnungen, wie die Pflegebuchführungsverordnung. Die gesetzlichen Öffnungsklauseln erschließen sich dem Fachjuristen und Betriebswirt der sozialen Einrichtungen.

Das Gesetz wurde maßgelblich auf den Weg gebracht, zur:

  1. Verringerung der Sozialkosten. Durch Einführung des neuen Versicherungszweiges und Beteiligung der Arbeitnehmer mit 1% für die Pflegeversicherung in 1994.
  2. Öffnung des Pflegemarktes für private Investoren.
  3. Verantwortungsverlagerung auf neue Organisationen ohne eigene Klagemöglichkeit als Anhang der Krankenkassen.

Nicht zur Daseinsvorsorge im Pflegefall. Nein, zur Absicherung der bestehenden Einrichtungen der Wohlfahrtspflege und Öffnung des Marktes für Investoren.

Zu 1.

Seit dem 1. Juli 2023 ist der Beitragssatz zur Pflegeversicherung auf 3,4 Prozent erhöht. Diese Maßnahme ist aufgrund der demografischen Entwicklung und der steigenden Kosten in der Pflege notwendig geworden. Der Beitragszuschlag für Kinderlose beträgt 0,6 Prozent. Den noch verbliebenen 96 Pflegekassen fließen 2024 insgesamt 66 Mrd. € zu.

Zu 2.

Bis 1994 war der „Pflegemarkt“ von den Kommunen und den Wohlfahrtsverbänden bestimmt. Private Einrichtungen klagten gezielt für mittellose aufgenommene Bewohner die Kosten die Sozialhilfe ein. Das Pflegeversicherungsgesetz wurde nach 12jähriger Diskussion als „Teilkaskoversicherung“ vom Bundestag mehrheitlich, auch gegen die Stimme des verantwortlichen Ministers, Nobert Blüm, verabschiedet. Seiner Beharrlichkeit ist die Mitwirkung der Bewohner (§ 85 Abs. 3 SGB XI) zu verdanken. Das Ziel war, die notwendigen Pflegeplätze durch Marktmittel zu erstellen. 1994 konnten 40% der Pflegebedürftigen eine Pflegeplatz erhalten, 2023 sind es 12%. Private-Equity-Übernahmen wurden bereits während ihrer Entstehungszeit in den 1980er Jahren mit einem hohen Fremdkapitalanteil finanziert, und dies wurde häufig als eines ihrer Erfolgsmerkmale angesehen. Private Equity ist immer als temporäre Unternehmenskontrolle angelegt. Nachvollziehbar ist das Verhalten der Investoren zum Beispiel bei dem im Jahre 1973 gegründeten Betreiber ALLOHEIM SE. Der Betreiber Alloheim SE selbst ist seit 2008 in der Hand wechselnder Kapitalgesellschaften. Bis 2013 war dies die britische „Star Capital Partners“ mit 67 Einrichtungen und 7.500 Bettplätzen, fünf (5) Jahre darauf folgte bis 2017 die amerikanische Carlyle-Gruppe. Ende 2017 übernahm dann die schwedische Kapitalgesellschaft „Nordic Capital“ den Alloheim-Konzern für 1,1 Milliarden Euro. Der Wert betrug 2014 zufolge von Finanzkreisen etwa 500 Millionen Euro. Die Börsenzeitung vermeldete bereits am 1.Sept. 2021:  „schwedischen Finanzinvestor Nordic Capital, der jetzt den Verkaufsprozess (nach Korian, zweitgrößte Pflegeheimbetreiber in Deutschland) einzuleiten beginnt. Mit der milliardenschweren Transaktion beauftragt ist die Investmentbank UBS.“

Die Kennzahlen der Alloheim SE der Jahre 2014 (2017) 2022

  • Anzahl Pflegeheime 67 – (200) 249; Anzahl Pflegeplätze 7.500 – (18.410) 23.400

Stand Mai 2023 nach eigenen Angaben:  254 stationäre Pflegeeinrichtungen; 90 Einrichtungen mit Betreutem Wohnen; 24 ambulante Pflegedienste; 24.800 stationäre Pflegeplätze; 2.700 Plätze Betreutes Wohnen. Wachstum bedeutet Mehrerlöse, größerer Marktwert. Der Wechsel des Investors steht an.

2002 mussten täglich im gehobenen Mittel für die Stufe 1 der Pflege 37 €, die Hotelkosten 31 € (Vollverpflegung 15 €, Nebenkosten 9 €, Kaltmiete 7 €) gezahlt werden. 68 € * 30,42 =2.068,56 € Brutto. In der Einrichtung mit 100 Bettplätzen ergaben sich monatliche Mindest-Erlöse von 206.856 €. Die Bewohner zahlten den Pflegeanteil je Stufe, die überwiegend durch die Pflegekasse gedeckt war.

Eine Verschlechterung für den Bewohner wurde 2017 mit dem Einrichtungs-Einheitlichen-Entgelt der Pflegekosten zum Vorteil der Einrichtung eingeführt. Die Einrichtung plant einen Bewohner und Pflegekräftemix. Von den geplanten zukünftigen Pflegekosten werden die Erlöse der Pflegekasse abgezogen. Die verbleibenden Plan-Kosten werden auf alle Bewohner gleichmäßig aufgeteilt. Damit subventionieren Bewohner mit Pflegegrad 2 und 3 die übrigen Bewohner mit höheren Pflegegraden. Die geplanten Pflegekosten, davon sind 95% Personalkosten, müssten plausibel zu den bestehenden IST-Kosten sein. Sind die angesetzten Verwaltungskosten gegeben oder leitet z.B. eine Person eine weitere Einrichtung und wird sie doppelt oder mehrfach entlohnt.

Zu 3.

Bis 1993 verhandelten die überörtlichen Sozialhilfeträger mit den Einrichtungen sogenannte Selbstkosten, gedeckelt durch die jeweiligen Kosten nach dem Landesindex. Die Pflegekassen auf Landesebene sind seit 1994 die Verhandlungsführer bei dem gesamten Entgeltverfahren, der überörtliche Sozialhilfeträger, in NRW die Landschaftsverbände, müssen sich auf plausible Angaben zu den Entgeltunterlagen für die Verhandlungen der Einrichtungsträger einlassen. Es wird kein Testat der letzten verfügbaren Einzelbilanz der Einrichtung zum Abgleich nach der Pflegebuchführungsverordnung gefordert. Die notwendige Stellungnahme des Bewohnerbeirates, nach § 85 Abs. 3 SGB XI, zu den Angaben oder gar die Teilnahme an der Verhandlung wird nicht verlangt. Neuen Entgelte werden auf Treu und Glauben verhandelt. Sanktionsmöglichkeiten fehlen. Die Zahlen gehen im Konzern nach §§ 291ff HGB gewollt unter. Den Wohlfahrtseinrichtungen wird auch ein Gewinnzuschlag zugebilligt.

Pflegekassen

Warum nicht

Warum nutzen die Pflegekassen nicht die Möglichkeit der Stellungnahmen der Bewohnerbeiräte nach § 85 Abs.3 SGB XI sondern begnügen sich mit vorgelegten Unterschriften der alle zwei Jahre neu zu wählenden Bewohnervertreter nach den Wohn- und Teilhabe-Gesetze (WTG) der Länder?

Verantwortliches Handeln sieht anders aus.

Die Entgeltverhandlungen werden zentral von den Betreibern nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten vorbereitet. Die Einrichtungsleiter kennen selten die effektiven Buchhaltungswerte nach der Pflegebuchführungsverordnung und oft auch nicht die gesamten Unterlagen, die zur Verhandlung eingereicht werden. Den Bewohnerbeiräten werden diese selten vollumfänglich zur Verfügung gestellt. Damit wird die Einrichtungsleitung und der Bewohnerbeirat mit der Auseinandersetzung der Zahlen und der Wirklichkeit verschont. Es entfällt die notwendige Diskussion und Abstimmung im Gremium über die zukünftigen Kosten der Pflege und der Hotelkosten. Die Kaltmiete, in Form der Investitionskosten, ist nicht Verhandlungsbestandteil. Siehe auch: Pflegenotstand durch fehlende (Mit)Verantwortung.

Die Landesverbände der Pflegekassen zahlen selbst feste Pauschalen und verhandeln Preise zu Lasten Dritter, den Bewohnern, mit Vertretern systemrelevanter Anbietern.

Der Gesetzgeber ist aufgerufen, die

  • Pflegekassen haben die Bewohnerbeiräte als notwendige Teilnehmer bei den Entgeltverhandlungen beizuladen. Was nutzen Unterschriften nach § 85 Abs. 3 SGB XI ohne Stellungnahme?
  • testierten Einzelbilanzen sind zur Verhandlung beizustellen. Auf Verlangen sind die Pflegebuchführungen offenzulegen.
  • Konzernregelungen nach §§ 291ff. HGB müssen entfallen, Einzel-Bilanzen von Gesundheitseinrichtungen sind offen zu legen.
  • Sanktionsmöglichkeiten bei Verstoß sind einzuführen.
  • Ordnungsbehörde sind zu stärken. Die Kommunen können nicht gleichzeitig Träger von Einrichtungen sein, solange die Daseinsvorsorge der Pflege privatwirtschaftlich organisiert ist.
  • Mitbestimmung für der Arbeitnehmervertreter und Sozialverbände sind verbindlich einzuführen.

Was nutzen Gesetze, die nicht eingehalten werden müssen. Wenn zudem keine Sanktion droht, damit die Forderungen erfüllt werden, weil keine Kontrolle ausgeübt wird, ein systemrelevantes Oligopol besteht. Es ist vorrangige Pflicht der WTG-Behörden die Bewohnerbeiräte, die Bewohner zu schützen und nicht die Einrichtungsträger weiterhin vorrangig mit geringen Gebühren zu beraten. Dies war vor der Einführung der Pflegeversicherung und bei den Selbstkosten für die Wohlfahrtseinrichtungen zu begründen, nicht mehr bei der Zusicherung von Gewinnmargen und dem Credo des freien Marktes. Entweder staatliche Vorsorge mit Kostenübernahme oder es gilt das Unternehmerrisiko.

Zusätzliche Gewinnmaximierung

Die Insolvenzen in Eigenverantwortung dienen dazu, sich von nicht so gewinnträchtigen Einrichtungen auf Kosten der Allgemeinheit zu entledigen. Bei gegebener Refinanzierung durch die Entgeltvereinbarung und betriebswirtschaftlicher Führung der Einrichtung steht genügend Geld für eine verhandelte Qualitätspflege zur Verfügung.

Schadet verantwortliches Handeln

Diese Frage stellt sich; gut geführte Einrichtungen mit entsprechender Mitarbeitervertretung (Betriebs-, Personalrat oder MAV) haben geringe bis keine Personalprobleme und müssen nicht durch die WTG-Behörde Anlassbezogen ge- und überprüft werden. Die „Problemfälle“ werden nicht öffentlich und Angehörige haben durch den fehlenden Markt keine Ausweichmöglichkeit. 

Angesichts der sozialen, ökologischen und ökonomischen Auswirkungen unternehmerischer Tätigkeiten und einer entsprechend sachgerechten Leistungsbewertung wird in der Industrie vermehrt vom „Social Value“ eines Unternehmens gesprochen. Warum werden im Gesundheitsbereich keine entsprechende Verantwortung und Bewertung  durch den Gesetzgeber  gesehen? Arbeitnehmerrelevante Themen finden in den Social-Value-Ansätzen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften nur eingeschränkt Beachtung. Die Bewertungsansätze für Social Value werden in Grundzügen transparent dargestellt. Die Ermittlung und Bemessung von gesellschaftlichen Auswirkungen können häufig nicht nachvollzogen werden. Die Pflegequalität darf nicht länger zwischen Pflegekassen und Einrichtungsträgerverbänden unverbindlich ausgehandelt werden. Es reicht auch nicht aus, dass Vertreter der Seniorenorganisationen oder der Pflegekammern die Möglichkeit der unverbindlichen Anhörung erhalten. Wir brauchen eine wertorientierte Entscheidungsfindung im Sinne der Pflegebedürftigen durch echte Beteilung und Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter und Sozialverbände (VdK, SoVD, BIVA).

Die Selbstverpflichtung zur Qualitätssicherung, seit 2021 auch für ambulante Dienste, und die verpflichtende öffentlichen Angaben werden selten geleistet.  Wenn, dann nur für Profis auffindbar.

Die qualitativ hochwertige, ganzheitliche gesundheitliche Versorgung muss in ein solidarisches Vergabeprinzip eingebettet werden. Reparaturvorschläge festigen die „Ausbeutung“. Lernen wir von unseren Nachbarn. Fordern wir von allen Beteiligten soziales verantwortliches Handeln ein.

Es folgen:

„Pflege: Arbeit, Liebesakt oder …“

„Fehlende Wirtschaftlichkeit“

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Wir sind auf Ihre Kommentare gespannt, auch unter dem Aspekt der Forderung der Wohlfahrtsverbänden zu einer „solidarischen Pflegevollversicherung“ bei fehlenden examinierten Pflegekräften. Wollen die keinen Beitrag verpassen, nutzen Sie den kostenlosen Newsletter. Ihre E-Mail und der Bestätigungslink reichen. Wir arbeiten werbefrei ohne fremde Hilfe oder Unterstützung.

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