Hartz IV – Armut per Gesetz!?

Hartz IV hat einen schlechten Ruf und ist gleichzeitig das Element der Grundsicherung. Ist sie zukunftsfest ?

Hartz IV ist Teil des sozialen Sicherungsnetzes, das für alle gespannt sein muss, deren soziokulturelles Existenzminimum nicht anderweitig gedeckt werden kann. Hartz IV heißt eigentlich Arbeitslosengeld II  und die Unterstützung für Familienmitglieder der Empfänger heißt Sozialgeld. Beides ist nun im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) Grundsicherung für Arbeitsuchende rechtlich geregelt. Der abwertend mehrdeutige Begriff Hartz IV ist so tief im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass selbst Politiker, die für das Grundsicherungssystem Verantwortung tragen, nicht gänzlich auf diesen Begriff verzichten können, wenn sie verstanden werden wollen. Siehe auch: Hartz IV die Problemgeschichte der Gegenwart

Die zweite große Säule der Grundsicherung ist die Sozialhilfe (geregelt im SGB XII), insbesondere die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die 1962 mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) eingeführte Sozialhilfe genannte Grundsicherung war eine der großen sozialpolitischen Errungenschaften in der Bonner Republik. Die Aufgabenfestlegung des Gesetzes nahm unmittelbar Bezug auf Artikel I des Grundgesetzes: Aufgabe der Sozialhilfe ist es,dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.

Ohne Rücksicht auf eigenes Verschulden, das möglicherweise zur Abhängigkeit von Hilfe geführt hat, haben Hilfebedürftige einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Hilfe zur Sicherstellung der soziokulturellen Existenzminimums.  Als soziokulturell wird dieses Minimum bezeichnet, weil die Mittel, die für ein Leben in Würde erforderlich sind, nur im Bezug zu den gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt werden können. Neben der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt gab es Hilfe in besonderen Lebenslagen, um dem Grundsatz der Individualisierung der Hilfe gerecht zu werden. Dabei war das Ziel der Überwindung des Hilfebedarfs einschließlich der Mitwirkungspflichten der/des Hilfeberechtigten, das im heutigen Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende sehr betont wird, auch damals schon benannt: Die Hilfe soll ihn, den Empfänger der Hilfe, soweit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben, hierbei muss er nach seinen Kräften mitwirken. „Kippt jetzt Hartz IV?“ Klage wegen Sanktionen vor dem Bundesverfassungsgericht.  Bundesverfassungsgerichtsurteil Nov.2019

Wer auf Sozialhilfe bzw. Hartz IV angewiesen ist, gilt heute in der öffentlichen Wahrnehmung als arm.

Die Grundsicherung muss mehr als das physische Überleben sichern, sie muss das soziokulturelle Minimum für ein Leben in Würde decken!

Überlegungen zur Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung begründen diesen Anspruch. Die freiwillige Zustimmung der Bürger ist nur gegeben, wenn sie allen Mitgliedern der Gesellschaft Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Teilhabe an der Gesellschaft bedeutet: Teilnahme an den ökonomischen und kulturellen Errungenschaften in und an der Gesellschaft, mit dem Ziel, ein gelingendes, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Dies erfordert eine entsprechende materielle Grundlagen in der Verfügungsgewalt der Menschen, sprich Geld. Damit wird es eine Grundsicherung für diejenigen, die ohne diese Hilfe kein Leben in Würde führen können,

Eine Gesellschaftsordnung aber, die einen Teil ihrer Bürger systematisch und dauerhaft von den Errungenschaften gesellschaftlicher Entwicklung (Gesundheit, Wohlstand, Bildung, Kultur) ausschließt, wird kaum die Zustimmung aller Bürger finden können.

Die Politik der Armutsbekämpfung kann sich somit nicht in der materiellen Kompensation von unzureichendem Erwerbseinkommen (Subventionierung der Unternehmen) erschöpfen. Es muss auch Teil der Armutsprävention sein, die Bürger, wo immer dies möglich ist, dabei zu unterstützen, die Voraussetzungen für eine ökonomisch eigenständige Lebensführung zurückzugewinnen. Damit gehört zur Armutsprävention auch die Befähigung, einschließlich der Befähigung zur erfolgreichen Teilnahme an Marktprozessen, insbesondere  am Arbeitsmarkt. Die massiven Defizite, die in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik bestehen, sind effektiv abzubauen. Unternehmen sind in die soziale Verpflichtung einzubinden.

Der Teilhabeanspruch in der Armutsprävention hat Verfassungsrang.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 zur Verfassungskonformität der Regelleistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aus Artikel 1 Absatz 1 (Unantastbarkeit menschlicher Würde) und Artikel 20 Absatz 1 (Sozialstaatsgebot) des Grundgesetzes ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums abgeleitet.  

Es sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Das Bundesverfassungsgericht mahnt hier Transparenz an, lässt aber dem Gesetzgeber, wie auch weitere Urteile zeigen, einen weiten Gestaltungsspielraum. Aus der Verfassung selbst kann weder die konkrete Höhe des Regelsatzes noch die des Sozialgeldes für Kinder abgeleitet werden. Aber und das macht die Bedeutung dieses Urteils aus, der Gesetzgeber und die von ihm beauftragte Regierung darf bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht willkürlich vorgehen. Das Verfahren, nach dem sich die Regelsätze berechnen, muss in jedem Schritt nachvollziehbar sein und auf der Basis verlässlicher Zahlen erfolgen. Nur dann ist eine Überprüfung der Verfassungskonformität des Hilfesystems möglich. Transparenz bedeutet, politisch Rechenschaft geben zu müssen, welche normativen Setzungen der Berechnung zugrunde gelegt werden. Gerade an dieser Transparenz hatte es in der Zeit vor dem Urteil gefehlt.

Stattdessen wurde in wichtige Elemente der Regelsatzberechnung administrativ eingegriffen, um das Ergebnis der Berechnung in die gewünschte Richtung nach Kassenlage zu verschieben. Das Bundesverfassungsgericht kritisierte bereits 2010 nicht ausreichend begründete Abschläge bei der Berechnung deutlich. Auch dürften Bildungsausgaben bei Erwachsenen nicht völlig unberücksichtigt bleiben. Für Kinder müsse dies ohnehin gelten.

So wie die derzeitige Debatte zu Armut in Deutschland geführt wird, gehört nicht allzu viel Phantasie dazu sich vorzustellen, dass die Zunahme der sozialen Kälte in Deutschland zu beklagen und auf die Schande hinzuweisen, dass die Kinderarmut zugenommen hat. Wenn die Höhe der Grundsicherung ohne weiteres zur Armutsschwelle erklärt wird. Soziale Probleme finden ihren statistischen Niederschlag häufig in den Hilfen, die zu ihrer Milderung bereitgestellt werden. Wenn die Zahlen der Hilfeempfänger steigt, so kann dies Folge wachsender Probleme, aber auch Folge besserer Hilfen sein. Diese notwendige Differenzierung unterbleibt aber oft in der deutschen Sozialstaatsdebatte. Eine unfaire Skandalisierung dieser Daten macht den Sozialstaat verwundbar. Das aber kann für die Teilhabechancen armer Menschen sehr nachteilig sein. Denn für Politiker ist es äußerst unattraktiv, Hilfen auszubauen, nur um mit geringer zeitlicher Verzögerung massiven Vorwürfen ausgesetzt zu sein, die Zahl der Hartz-IV Bezieher und damit die Armut habe in ihrer Regierungszeit zugenommen. Solange die Interpretation der Daten so einseitig erfolgt wie derzeit in der deutschen Armutsdebatte, entkommt man dieser Falle nicht. Doch in einer an konkreten Verbesserungen ausgerichteten Sozialdebatte kann dies gelingen. Denn eine deutliche Erhöhung der Hilfen ist natürlich nicht der Weg in die soziale Kälte, sondern ein sehr wichtiger Schritt dahin, dass die Grundsicherung Armut nicht nur bekämpfen, sondern auch überwinden kann. Der Sozialstaat in Deutschland braucht ein Grundsicherungssystem für alle Bürger.   Reformvorschläge liegen vor.

Wir müssen die Parteien drängen, die soziale Sicherung politisch weiterzuentwickeln, auch unter dem Aspekt der industriellen digitalen Herausforderung. Wer dies diskreditiert oder gar verweigert, riskiert den sozialen Zusammenhalt im Staat.