System mit großen Lücken
Als 1995 in Deutschland die gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI) eingeführt wurde, setzte die Politik bewusst auf das Modell der Teilkaskoversicherung, bei dem nur ein fixer Anteil der Kosten abgedeckt ist. Um den Teil wurde die Sozialversicherung entlastet. Das bedeutet, dass Menschen mit Pflegebedarf und ihre Familien die Kosten zu einem hohen Maße weiterhin selbst tragen oder Angehörige die Pflege ohne Entlohnung leisten müssen. Wer zu Hause gepflegt wird, kann formal wählen zwischen sogenannte „Pflegesachleistungen“, Pflegegeld oder einer Kombination aus beidem.
Pflegesachleistungen gehen als Erlöse direkt an die ambulanten Pflegedienste, die die Menschen zu Hause pflegen. Was für eine Sache?
Das häusliche Pflegegeld wird dagegen direkt an die Betroffenen, dem anerkannt Pflegebedürftigen wird das Geld aufs Konto ausgezahlt und ist ungefähr die Hälfte, ein wesentlich geringerer Beitrag.
Die Lücken entstehen an verschiedenen Stellen: Einerseits erfasst der Begriff von Pflegebedürftigkeit auf dem die Versicherung basiert, noch immer nicht den realistischen Bedarf an der notwendigen Unterstützung. Zwar werden seit 2017 bei der Einstufung in die sogenannten Pflegegrade (vorher:Pflegestufen) endlich auch geistige Beeinträchtigungen wie etwa Demenz berücksichtigt. Doch obwohl der Grad der Selbständigkeit im Alltag und die soziale Teilhabe in die Begutachtung mit einfließen, gibt es dafür am Ende keine zusätzlichen Mittel. Pflegebedingte Unterstützung im Haushalt oder Aktivitäten außer Haus, zur Teilhabe am sozialen Leben, sind nach wie vor nicht abgedeckt. Für Menschen mit Behinderungen, die zugleich pflegebedürftig sind, ist dieses Model besonders problematisch. Ihnen stehen nur direkte Pflegeleistungen zu, obgleich sie viel mehr und andere Unterstützung im Alltag benötigen, um gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben zu können. In Heimen der Behindertenhilfe stehen noch nicht einmal die vollen Leistungen der Pflegeversicherung zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es viele Menschen mit chronischen Krankheiten, die durch das Raster der Pflegebedürftigkeit fallen. Vor allem ist aber die Leistungshöhe insgesamt viel zu niedrig. Sie wurde über die Jahre kaum an die steigenden Kosten angepasst und deckt nicht annähernd den Bedarf. Für die Betroffenen ist das ein Dilemma: Ein Pflegeheim können oder wollen sich viele aus Angst vor Zuzahlungen oder schlechter Versorgung nicht leisten.(Im bundesweiten Durchschnitt müssen für einen Heimplatz monatlich rund 1.700 Euro, im Ruhrgebiet sind dies überwiegend über 2.000 €, die aus eigener Tasche zugezahlt werden. Bei einer Pflegezeit von durchschnittlich acht Jahren wären das über 160.000 Euro, die eine Person mit Pflegebedarf oder ihre Familie selbst aufbringen müssen). Für immer mehr Menschen ist das unmöglich. Ein ambulanter Pflegedienst übernimmt ebenfalls nur einen Teil der notwendigen Arbeit und führt zudem dazu, dass das Pflegegeld ganz entfällt und damit die formale Möglichkeit, die prozentuale Kombinationsleistung in Anspruch zu nehmen. Für die meisten Menschen geht die Rechnung nur auf, wenn sie privat dazuzahlen und/oder wenn ihre Angehörigen kostenlos bis zur Selbstaufgabe einspringen.
Seit 2017 zahlt die Pflegeversicherung für pflegende erwerbstätige Angehörige zur Motivation höhere Beiträge an die Rentenversicherung. Doch unter dem Strich bleibt ein Minus.
Seit etwa einem Jahr zahlt die Pflegeversicherung für Menschen, die schwer pflegebedürftige Angehörige mehr als zehn Stunden in der Woche verteilt auf zwei Tage pflegen, Pflichtbeiträge an die gesetzliche Rentenversicherung. Ziel ist es, Zeiten der Pflege im Rentenrecht genauso zu berücksichtigen wie Zeiten der Kindererziehung. Wer pflegt, soll dadurch keine großen finanziellen Nachteile im Alter haben. Soweit die Theorie.
Nur in der Praxis wird das Ziel offenbar nicht erreicht. Dies bestätigt die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken, die uns vorliegt. Danach wird der Nachteil, den der pflegende Angehörige durch den Verzicht auf einen Teil seiner Erwerbstätigkeit hat, zwar gemildert, aber bei Weitem nicht kompensiert.
Dies gilt selbst dann, wenn die Pflegeperson in ihrem Beruf immer nur das Durchschnittseinkommen verdient hat. Denn genau einen solchen Modellfall hat das Arbeitsministerium auf Anfrage der Links-Fraktion durchrechnen lassen.
Es geht um eine 1964 geborene Ostdeutsche, die 2031 das gesetzliche Rentenalter erreicht und immer nur den Durchschnittslohn von aktuell 2806 Euro im Monat verdient. Würde sie weiter bis zum Ende Vollzeit arbeiten, würde sie für die Jahre 2017 bis 2031 einen Rentenanspruch von 584,58 Euro erwerben.
Würde sie stattdessen ab diesem Jahr für die Pflege eines Angehörigen mit dem vom Medizinischen Dienst anerkannten Pflegegrad zwei Arbeitszeit und Lohn um 30 Prozent reduzieren, wären es nur 409,21 Euro. Die Beiträge, die die Pflegeversicherung für die 30 Prozent Pflegezeit überweisen würde, brächten zwar eine Zusatzrente von 151,63 Euro. Unter dem Strich bliebe aber ein Minus von 23,74 Euro im Monat
Hätte der Angehörige den Pflegegrad drei und würde die Frau ihre Arbeitszeit deshalb halbieren, könnte sie bis 2031 nur noch einen regulären Rentenanspruch von 292,29 Euro erwerben. Über die Beitragszahlungen der Pflegeversicherung kämen noch 241,47 Euro hinzu. Macht 50,82 Euro Verlust im Monat.
Bei der durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von Frauen von 21,6 Jahren summieren sich die Verluste auf über 6.100 Euro beziehungsweise über 13.100 Euro. Hinzu gezählt werden muss aber auch der Verlust an Erwerbseinkommen während der Zeit der Pflege. Er beträgt in den 15 Jahren Pflege ohne Lohnerhöhungen 12.600 Euro im ersten und 21.000 Euro im zweiten Fall.
Ginge sie, um ihren Partner (Pflegegrad zwei) zu pflegen, auf eine 70-Prozent-Stelle, wären es nur noch 444,15 Euro. Über die Beiträge der Pflegekasse an die Rentenversicherung käme eine Pflegerente von 165,29 Euro hinzu. Unter dem Strich fehlten 25,06 Euro im Monat. Bei einer 50% Stelle läge die Rentenlücke wegen der Pflege sogar bei 54,01 Euro im Monat.
Höhere Verluste bei Altersversorgung
Weit höher sind die Verluste bei der Altersversorgung für pflegende Arbeitnehmer, die mehr als den Durchschnittslohn verdienen. Dies trifft aber auf besonders viele Menschen zu, die pflegen. Sie sind meist selbst nicht mehr weit vom Rentenalter entfernt und haben daher in ihrer Einkommenskarriere oft schon höchsten Punkt erreicht.
Die Beispiele sind repräsentativ. Auch das lässt sich aus der Antwort von Staatssekretärin Kerstin Griese ablesen. Von den Pflegenden, für die Rentenversicherung 2016 Rentenbeiträge gezahlt hat, waren nämlich 88 Prozent Frauen.
Nur im Osten ist der Frauenanteil ein wenig geringer. Dort engagieren sich 17 Prozent der Männer so sehr, dass die Pflegeversicherung Rentenbeiträge für sie zahlen muss. Im Westen sind das nur elf Prozent. Außerdem sind die meisten Menschen, die im häuslichen Umfeld gepflegt werden, im Pflegegrad zwei oder drei. Mehr als 50 Prozent haben den Pflegegrad zwei. Weitere 27,6 Prozent den Pflegegrad drei.
Insgesamt gibt es seit 2017 fünf (5) Pflegegrade. Sie haben die bisherigen drei Pflegestufen abgelöst, die jeweilige Zuschlag für Demenz sind gleichzeitig entfallen und in den Pflegegraden aufgegangen. Welchen Pflegegrad der medizinische Dienst nun anerkennt, hängt nicht mehr von gemessenen Pflegeminuten ab, sonder davon, wie schwer es fällt den Alltag selbstständig zu meistern, dies unabhängig von der benötigten Zeit.
– SENIOREN HABEN ZEIT –
Wer schlecht zu Fuß ist, aber selbst zur Toilette gehen, sich waschen, Kontakt halten kann zu Verwandten oder Freunden und seine finanziellen Angelegenheiten im Griff hat, der erhält maximal den Pflegegrad eins (1).
Wer dagegen nach einem Schlaganfall so stark gelähmt ist, dass er Hilfe beim Anziehen oder anderen jeden Tag anfallenden Dingen wie Waschen und Toilettengang braucht, der hat Pflegegrad zwei oder drei. Auch Menschen mit dem Anfangsstadium einer Demenz können in einem der beiden mittleren Pflegegrade landen.
Die Belastung die Angehörige zu tragen haben, die Menschen mit so großen Problemen tagtäglich betreuen,ist immens. Viele von ihnen müssen daher auch die Unterstützung durch ambulante Pflegedienste als Sachleistung der Pflegekasse in Anspruch nehmen.
Achtung: Wer dabei an seine spätere Rente denkt, wird aber alles tun, um das zu vermeiden. Denn die Rentenbeiträge, die die Pflegekasse für pflegende Angehörige zahlt, sind gestaffelt: Für Angehörige mit Pflegegrad eins gibt es nichts.
Beim Pflegegrad zwei zahlt die Pflegekasse Rentenbeiträge, als hätte der pflegende Angehörige 822 Euro verdient. Beim Pflegegrad drei beträgt das fiktive Einkommen, für das Beiträge gezahlt werden, gut 1.300 Euro, bei Pflegegrad vier sind es 2.100 Euro und bei Pflegegrad fünf sind es 3.045 Euro in Westdeutschland.
Für ein Jahr Pflege gibt es gestaffelt nach Pflegegrad mithin eine zusätzlich monatliche Bruttorente von zwischen 8,34 und 30,90 Euro. Nimmt der pflegende Angehörige dagegen die Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes in Anspruch, gibt es nur noch einen Rentenanspruch von 5,84 bis 21,63 Euro zusätzlich pro Jahr Pflegedienst. Der Verlust im Beispielfall der 1964 geborenen Westdeutschen bei der späteren Rente erhöht sich auf 50 beziehungsweise 95 Euro im Monat. Viel Geld für einen Durchschnittsrentner.
Für Besserverdiener unter den Angehörigen, die sich um ihre pflegebedürftigen Eltern sorgen, muss das nicht ärgern. Sie gehen heute schon auf Nummer sicher, und nutzen die ambulanten Leistungen der Pflegeversicherung optimal und ihr hohes Einkommen, um Einbußen bei der Rente wegen Pflege zu vermeiden. Gutverdiener mit hohem sozialen Status nutzen ihr hohes Erwerbseinkommen lieber, um sich professionelle Pflegedienste einzukaufen und können gleichzeitig die Kosten der Pflege und für die Haushaltshilfe bei der Einkommenssteuer mindernd geltend machen.
Ist Armut in Deutschland für Arme durch Pflege politisch gewollt?
Die Situation spitzt sich seit Jahren zu durch fehlende
- ausgebildete Pflegekräfte,
- Einrichtungsplätze,
- Kurzzeitplätze.
Die soziale Gerechtigkeit ist durch die gesellschaftliche Wertigkeit von Senioren und Pflege in großer Gefahr.
Eine mögliche Antwort Eckpunkte zur solidarischen Weiterentwicklung der Sozialen Pflegeversicherung
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