Die Verbände, Einrichtungsträger und die Medien überschlagen sich in den Forderungen nach einer Pflegereform. Die Lobbyisten verschweigen den eigentlichen Grund, die Sicherung ihrer Gewinne unter Ausnutzung der Pflegekatastrophe.
Pflegesysteme im internationalen Vergleich – Pflegereport 2020 –
Anspruch und Verantwortung
Die demographischen und gesellschaftlichen Entwicklungen stellen nicht nur das deutsche Pflegesystem vor große Herausforderungen. Wie andere europäische Länder, Niederlande und Dänemark, mit dieser Aufgabe umgehen, haben wir in einigen Beiträgen aufgezeigt. Neu soll die steuerfinanzierte Ausgestaltung der Steuerungs-, Finanzierungs- und Leistungsstruktur im schwedischen und spanischen Pflegesystem aufgezeigt werden. Die Verantwortung bestimmt sich auch durch die Nähe, Art und Transparenz der Finanzierung und Leistung.
Daseinsvorsorge im Alter ist in Deutschland eine Kann-Leistung
In Deutschland wird seit 1994 durch die Arbeitnehmer in die gesetzliche Sozialversicherung prozentual bis zu einer Bemessungsgrenze eingezahlt. Wer über die Bemessungsgrenze hinaus verdient, kann sich befreien lassen und in eine private Pflegeversicherung, wie Abgeordnete, Beamte und freiberufliche einzahlen. Ausgaben und Einnahmen sind schwer nachvollziehbar. Ein Versuch der Zusammenstellung der Ausgaben der derzeit 95 gesetzlichen Pflegeversicherungen.
83% wurden in der Häuslichkeit gepflegt und erhielten 40,2 % der Ausgaben. 10 % = 5,5 Mrd. Euro sind nicht erklärt? Wieviel sind es bei 66 Mrd. € in 2024?
Werte 2022 | 4.875.337 | |||||
Ausgaben | Mrd. | Pflegebedürftige | ||||
1 | Pflegeberatung | 0,14 | 0,25% | |||
1 | Hilfsmittel Wohnumfeld | 1,65 | 2,95% | |||
1 | zusätzliche amb. Betreuung | 2,66 | 4,76% | |||
1 | Soziale Sicherung Pflegepersonen | 3,24 | 5,80% | |||
1 | Geldleistung | 14,92 | 26,72% | 40,24% | 4.044.126 | 82,95% |
2 | Kurzzeitpflege | 0,74 | 1,33% | |||
2 | Tages-/Nachtpflege | 1,12 | 2,01% | |||
2 | stationäre Zuschläge | 1,59 | 2,85% | |||
2 | Verhinderungspflege | 2,12 | 3,80% | |||
2 | Vollstationäre Pflege | 16,04 | 28,72% | |||
3 | Pflegesachleistung | 5,68 | 10,17% | 48,87% | 690.787 | 14,17% |
4 | sonstige Leistungsausgaben | 5,5 | 9,85% | |||
5 | Vollstationäre Pflege Behinderte | 0,44 | 0,79% | 140.424 | 2,88% | |
55,84 Mrd. |
Durch die Pflegeversicherungserhöhung auf 3,4 % (allgemein) im Juli 2023, stehen den Pflegekassen 66 Mrd. (in Zahlen 66.000.000.000) Euro zur Verfügung. Eine Erneuerung der Versorgungsstrukturen greift zu kurz. Die Pflegeversicherung muss dringend völlig neu ausgerichtet werden. Versicherungsfremde und Pflegeleistungen müssen prozentual aus allen Erwerbseinkommen finanziert werden. Eine neue kommunale bürgernahe Steuerart ist notwendig. Der Verschiebebahnhof wird kleiner und transparenter.
Schweden
Dem schwedischen Pflegesystem liegt das Wohlfahrtsstaatsmodell zugrunde. In Deutschland waren Sozialverbände bis 1995 eine tragenden Säule der Pflege, der Staat ist durch das Pflegeversicherung Gesetz (SGB XI) seit 1995 nicht mehr in der Pflicht, die Wohlfahrtsverbände, tragen mit den angeschlossenen Einrichtungen nun als Marktteilnehmer mit Gewinnzusage zur Pflege bei.
Schweden zeichnet sich dadurch aus, dass die Gesamtbevölkerung als Zielgruppe gilt, ein umfassendes Leistungsangebot vorliegt und der Staat der Hauptakteur in der Leistungserbringung ist. Das schwedische Pflegesystem gilt als sehr umfassend und verfolgt das explizite Ziel, älteren Personen ein „Altern in Würde“ zu ermöglichen. Die Verantwortung für die Organisation und Finanzierung der Pflege liegt größtenteils auf staatlicher Ebene und nicht zufallsbedingt bei den Einzelpersonen und ihren Familien.
Verantwortlich sind die 21 Provinzen für die Gesundheitsversorgung und sind nicht in die Pflege involviert. Die kommunale Ebene mit 290 Gemeinden sind für die Leistungserbringung als auch für die Finanzierung der Pflege verantwortlich.
Die Beurteilung der Bedürftigkeit beginnt, nachdem der Gemeinde von der betroffenen Person ein Antrag vorgelegt wurde. Erfolgt eine positive Entscheidung, wird ein individueller Hilfeplan erstellt und umgesetzt. Die Gemeinden führen eine Bewertung über die von einer Person benötigte Anzahl an Stunden häuslicher Pflege durch. Die Bewertung richtet sich nach individuellen Bedürfnissen und es gibt keine zeitliche Begrenzung für den Bezug der häuslichen Pflege.
Über das nationale Steueraufkommen und Gemeindesteueraufkommen werden 95 % der Pflegekosten abgedeckt. Der private Finanzierungsanteil an den gesamten Pflegeausgaben liegt bei ungefähr 5 % und wird durch das jeweilige Einkommen bestimmt.
Selbstbeteiligungen:
Die Selbstbeteiligung ist übersichtlich. Eine nationale Sicherung vor hohen Kosten ist gegeben.
– Der Höchstbetrag für Altenpflege beträgt 210 Euro pro Monat.
– Die maximalen Kosten für ärztliche ambulante Pflege betragen 15 €uro pro Monat.
– Für Patienten, die 85 Jahre alt und älter sind, ist ambulante Pflege kostenlos.
– Der Höchstbetrag für Medikamente beläuft sich auf 20 Euro pro Monat.
– Personen haben Anspruch auf einen Schonbetrag für Miete und Lebenshaltungskosten.
Im schwedischen Pflegesystem gibt es sowohl Geld- als auch Sachleistungen. Rund 95 % aller Pflegeleistungen sind Sachleistungen.
Die Feststellung, ob und welche Personen Anspruch auf Pflegeleistungen haben, obliegt den Gemeinden.
Sachleistungen werden von der Gemeinde zur Verfügung gestellt und umfassen ambulante, teilstationäre und stationäre Pflege, Hauskrankenpflege, Essen auf Rädern, Fahrtendienste sowie Wohnraumanpassungen und den Hausnotruf. Im Bereich der ambulanten Pflege wird Hilfestellung bei Haushaltstätigkeiten (z. B. beim Einkaufen, Kochen, Wäsche waschen) sowie bei der persönlichen Pflege (z. B. beim Ankleiden, Waschen) gegeben und darüber hinaus emotionale und soziale Unterstützung angeboten.
Zwei Arten von Geldleistungen:
- Pflegende Angehörige unter 65 Jahren werden von den jeweiligen Gemeinden angestellt, um die Pflegearbeit zu verrichten. wird von den einzelnen Gemeinden getroffen, basierend auf der Beurteilung des Bedarfs.
- Eine Art Pflegegeld von maximal 450 € pro Monat zusätzlich zu den Sachleistungen an die Familienmitglieder
- häusliche Pflegezulage (hemvårdsbidrag/anhörigbidrag) und
- Pflegepersonenzulage (anhöriganställning). Die Entscheidung über die Gewährung dieser Leistungen, ihre Höhe und Laufzeit wird von den einzelnen Gemeinden getroffen, basierend auf der Beurteilung des Bedarfs und der persönlichen Einkommenssituation.
Zusammenfassung: Im Gesundheitssystem Schwedens gelten drei Grundprinzipien: Alle Menschen haben den gleichen Anspruch auf Würde sowie die gleichen Rechte, unabhängig von ihrer Stellung in der Gemeinschaft (Menschenwürde). Die Bedürftigsten werden vorrangig behandelt (Not und Solidarität). Wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, soll ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Kosten und Nutzen bestehen, wobei die Kosten im Verhältnis zur Verbesserung der Gesundheit gesehen werden (Kosteneffizienz). Ein Ausscheren aus dem Solidarsystem, wie es in Deutschland gegeben ist, ist nicht möglich. Die Pflege ist kein gesonderter Teil innerhalb des Gesundheitswesen mit einer Teilkostendeckung.
Spanien
Wie in Deutschland kommt den Einzelpersonen und ihren Familien die Verantwortung zu. Der Staat spielt eine Nebenrolle, der informellen Pflege kommt große Bedeutung zu.
Das spanische Pflegesystem in seiner heutigen Form wurde im Jahr 2007 durch ein umfassendes Pflegegesetz (sp.: Ley de Promoción de la Autonomía Personal y Atención a las Personas en situación de Dependencia; oder auch „Gesetz 39/2006“) begründet. Dieses gewährt einen universellen und bedarfsgerechten Anspruch auf Pflegeleistungen und betrachtet den Zugang als ein subjektives Recht.
Dem Zentralstaat obliegt die Gesetzgebung. Er setzt die gesetzlichen Rahmenbedingungen, verhandelt mit den Regionen über das Angebot, sowie die Finanzierung von Pflegeleistungen und legt ein bedarfsabhängiges, national einheitliches Minimum an Pflegeleistungen fest. Die Umsetzung erfolgt in den 17 autonomen Regionen. Diese legen die Höhe der regionalen Steuersätze selbstständig festsetzen und finanzieren daraus die Pflegeleistungen.
Die Finanzierung der Pflege erfolgt dabei zu 79 % aus allgemeinen Steuermitteln und zu 21 % aus privaten Mitteln.
- Die Pflegeausgaben für die öffentlich finanzierten Pflegeleistungen beliefen sich im Jahr 2018 auf rund 8,3 Mrd. EUR. Bei einer Gesamtbevölkerung von 46,8 Mio. 20,3 % der Einwohnern waren älter als 65 Jahre.
- Die privaten Zuzahlungen sind einkommensabhängig ausgestaltet, richten sich nach der Art der Leistung und variieren stark zwischen den einzelnen Regionen. Der Anteil der privaten Haushalte an den Pflegeausgaben kann daher im Einzelfall auf bis zu 90 % der Gesamtkosten steigen, insbesondere bei der Inanspruchnahme von stationären Pflegeleistungen.
Fazit
Der Anspruch der Bürger in Würde alt zu werden, ist überall gegeben.
- In Schweden und auch in Spanien sind staatliche Stellen für die Finanzierung und Umsetzung verantwortlich.
- In Deutschland wurde die Finanzierung 1994 auf die Bürger abgewälzt, um die Sozialausgaben zu vermindern. „Privat vor Staat“ ist die Devise.
- Durch die Bildung der Pflegekassen als Anhängsel der Krankenkassen wurde die Verantwortung dezentralisiert und verwässert.
- Die Verhandlungsmacht wurde den Sozialhilfeträgern zu Gunsten der Pflegekassen entzogen, die vorhandene Kompetenz abgebaut. Eine Handlungskontrolle und Ausgabenkontrolle finden nicht statt, eine Transparenz ist nicht gewollt.
- Der Staat ist durch das Pflegeversicherung Gesetz (SGB XI) seit 1995 nicht mehr der Pflicht. Die Länderregierung lehnen sich zurück. Der Markt zwischen Pflegekassen und Einrichtungen regelt es und doch zu Lasten der Zwangsversicherten oft durch Unterlassen ein.
- Die ordnungsbehördliche Kontrolle nach den Wohn- und Teilhabe-Gesetzen der Länder (WTG) ist zu einem Beratungsinstrument der Einrichtungen mutiert.
- Die Pflegekassen vereinbaren, durch fehlende gesetzliche Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten, Entgelte auf Treu und Glauben. Gleichzeitig wird die gesetzliche Kontrollmöglichkeit, die Stellungnahmen durch die Beiräte in den Einrichtungen nach § 85 Abs. 3 Satz 2 SGB XI, nicht eingefordert, nicht wahrgenommen.
- Die Anbieter haben ihre Macht über 25 Jahre durch Abbau der Angebote ausgebaut, die Erlöse optimiert. Konnten 1995 noch 40 Prozent aller Pflegebedürftigen einen Platz in einer stationären Einrichtung finden, stehen im Jahre 2024 nur noch 10 % der Einrichtungsplätze zur Verfügung. Die Angebote des „Service/Betreuten-Wohnen“ oder die neue Wortschöpfung „Stambulant“ zeigen die gesetzlichen Umgehungsversuche zur Optimierung der Erlöse.
Die bisherigen Reformen des SGB XI durch den Bundesgesetzgeber dienten überwiegend zur Sicherung der Erlöse der Anbieter, zu Lasten der Versicherten ohne Kontrolle und Transparenz, stärkt die Lobby der Investoren und Konzerne der Anbieter bei gleichzeitiger Qualitätsminderung und Parteiverdrossenheit der Bürger. Eine Zusammenlegung von privater und sozialer Pflegeversicherung zu einer einheitlichen Pflegeversicherung (VdK) greift demographisch zu kurz.
Pflege muss und kann wirtschaftlich angeboten werden, wenn jede Einrichtung nach den gesetzlichen Vorgaben geführt und kontrolliert wird. Es ist kein Zufall, dass Einrichtungen mit einer Personalvertretung, mit guter Arbeitsatmosphäre und einer verantwortlichen Führung, keine Personalfluktuation, keine Belegungsdefizite aufweisen und von keiner Pflegekatastrophe sprechen müssen.
Wenn Einrichtungsträger weiter zugesagte Transparenz und Qualität nicht umsetzen und Kosten nicht einrichtungsspezifisch nachweisen, sind Sachleistungsvergütung nicht gegeben, Unterstützungen nicht zu leisten. Bei Insolvenzen muss das Vorrecht der Kommune gesetzlich festgeschrieben werden, um Scheininsolvenzen zur Gewinnsicherung abzuwenden.
Wer das freie Unternehmertum in der Pflege mit Sozialversicherungsgeldern beansprucht, muss staatlich kontrolliert werden und darf nicht Übergebühr an den Geldern der Versicherten teilhaben. Einer weiteren Verwässerung des Verbraucherschutzes muss Einhalt geboten werden. Die Kommunale Verantwortung muss durch Steueraufkommen gestärkt werden. Ein Verweis auf „die da Oben“, zeigt keine Verantwortung. Kommunen und Versicherte dürfen nicht länger in Haftung genommen werden.
Wer eine Reform ohne eine breite Diskussion aller Beteiligten weiterhin verfolgt, entzieht sich der Verantwortung, handelt gegen die Bürger.
Transparenz, Verbreitung des Aufkommens und eine Vereinfachung ist angesagt.
Wer in einer Koalitionsvereinbarung Reformen verspricht, muss diese fundiert vorbereiten und im Wahlkampf bereits verantworten. Worthülsen, Forderungen sind zu wenig. Ein Ansatz findet sich im Hintergrund des aktuellen Positionspapieres Juli/2024 des Verbandes der Betriebs-Kranken-Kassen.
Fordern wir Mitsprache ein.
Wer kennt die gewählten Vertreter in den Kranken-/Pflegekassen aus den Sozialwahlen in 2023? Warten wir nicht bis zu den nächsten Kommunalwahlen. Senden Sie den Link an Vertreter im Rat, Sozialausschuss, Seniorenvertretung der Gemeinden, der Parteien, der Kirchen, der Verbände.
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In Kürze
- 26.07. Explodierende Heimentgelte ohne Kontrolle
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Wir hoffen Informationen zum Verständnis und einer notwendigen Diskussion geliefert zu haben.
Sich ärgern bringt keine Änderung. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Verbraucherschutz fällt nicht vom Himmel, wir müssen aktiv werden und einfordern. Pflege geht uns alle an, direkt oder indirekt als Angehörige.
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