Pflegebedürftig, verlassen und vergessen

Alt, aber mobil – das wollen heute viele Senioren und Rentner sein. Sie brauchen bezahlbare Mieten, einen erreichbaren Supermarkt, so sieht es die Wirtschaft. 

Wehe es droht die Pflege

Die meisten Kommunen planen nicht mit eigenen Zahlen und warten auf die Landesstatistik. Schreiben oft ihre Altenpläne für die stationären Einrichtungen mit den Anbietern formal fort. Fehlenden Angebote in der Tages- und Kurzzeitpflege werden gesehen. Eigene Erhebungen fehlen in den Kommunen mit dem Hinweis „Privat vor Staat“. Kontakte zur federführenden Pflegekasse, die Verhandlungsführerin in der jeweiligen Kommune, mit dem notwendigen Datenaustausch, scheint es nicht zu geben. Wo bleibt die Zukunftsplanung, das Engagement der gewählten Kommunalvertreter?

Daten werden ignoriert

Der Babyboom in den 1950er und 60er Jahren, sowie eine steigende Lebenserwartung, bescheren Deutschland starke Rentnerjahrgänge. Bis 2050 werden nach Schätzungen 23,3 Millionen Menschen älter als 65 Jahre sein – das sind etwa 30 Prozent mehr als heute. Damit wächst auch die Zahl der Pflegebedürftigen. 2017 betrugen die Kosten der Pflegeversicherung 38,5 Milliarden Euro. Für 2020 werden Ausgaben aus der Pflegeversicherung in Höhe von 45,2 Milliarden Euro vorausgesehen und für 2035 bereits 89,1 Milliarden prognostiziert. Dies bei gegebenen Verhältnissen.  Ein Ende mit: Augen zu und durch!

Die zweijährlichen WTG (Heimaufsichts)-Berichte, zeigen versteckt die Mängel und nicht die NOT der Bürger, werden pflichtgemäß entgegengenommen.  Ratsmitglieder kümmern sich formal um die Vorlage der Verwaltung. Seniorenbeiräte, im entsprechenden Unterausschuss, sehen oft nicht die „Pflegelandschaft“ oder gar die gesetzlich handelnden Heimbeiräte. Die notwendigen Unterstützungsmöglichkeiten zum Beispiel nach § 15 Absatz 1 NRW-WTG- DVO werden nicht genutzt.

Pflege eine Black-Box

Die Herrschaft der Anbieter liegt in den SOLL-Verhandlungen. Ohne IST-Kontrolle lässt sich trefflich mit Behauptungen streiten. Die alltägliche Konfrontation in den Einrichtungen zwischen Wunsch der Angehörigen und Umsetzung werden öffentlich nicht wahrgenommen. Die Brisanz und die körperliche Not in der häuslichen Pflege wird nicht gesehen, verniedlicht oder gar verdrängt. Ohne Druck und Öffentlichkeit bleibt die Senioren- / Altenpolitik weiterhin eine freiwillige Leistung der Kommune.  Das notwendige  Budget zur rechtzeitigen Aufklärung und Unterstützung, geschweige zur Vorsorge, wird bisher nicht eingestellt. Die Verwaltungen handeln nach Auftrag. Ein zukunftsweisender Ansatz kann in der Planung in Mülheim/Ruhr mit der „Dialog-Offensive Pflege“ seit 2012 gesehen werden. 2019 wird die Forderung nach einer einprozentigen (1%) Leistung aus dem anteiligen Pflegeversicherungsaufkommen (SGB XI) artikuliert, in Essen soll 2020 ein 3.000.000 Euro Projekt aufgelegt werden, in Oberhausen sind 250.000 € vorgesehen.

Die gravierenden Unterschiede, die sich in den Kommunen allein im Pflegebereich ergeben, werden öffentlich nicht kommuniziert und können damit nicht wahrgenommen werden. Wir haben öffentlich vorhandenen Daten zusammengestellt und aufgearbeitet.

Eine Wertung kann und sollte jeder Leser selbst vornehmen.

Im Ruhrgebiet leben über 5 Millionen Menschen, diese dürfen 2020, in einem guten halben Jahr, zum ersten Male in demokratischer freier Wahl, das Ruhrparlament wählen, gleichzeitig wird der Rat in  den Kommunen gewählt. Nur in wenigen Kommunen des Landes NRW werden gleichzeitig Seniorenräte direkt von den über 60 jährigen Bewohnern gewählt. Im Ruhrgebiet bestimmen die Parteien/Ratsfraktionen die Zusammensetzung des Gremiums.

Groß sind die Unterschiede und Voraussetzungen in der Altenhilfe von Stadt zu Stadt. Dies zeigen wir am Beispiel der anerkannt Pflegebedürftigen zum Stichtag 31.12,2017 auf.  Vorab muss erwähnt werden, nur ca. 80 % der Antragsteller erhalten einen der fünf (5) Pflegegrade und damit Unterstützung durch die Pflegekassen zugesprochen. Eine Grundlage ist die Beurteilung des Medizinischen Dienstes. Die Verteilung nach den Pflegegraden wird hier nicht problematisiert. Zum Vergleich werden die Zahlen des Bundes vorangestellt:

Gut 3,4 Millionen Menschen waren Ende 2017 pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes6 (SGB XI); das entspricht einem Anstieg der Gesamtzahl von Pflegebedürftigen um 19,4 % im Vergleich zu 2015 (ca. 2,9 Millionen Pflegebedürftige) Auch der Anteil derjenigen Pflegebedürftigen, die
zu Hause gepflegt werden, ist sowohl absolut als auch prozentual gestiegen: Während im Jahr 2015
73 % der Pflegebedürftigen (knapp 2,1 Millionen) zu Hause gepflegt wurden, stieg der Anteil Ende 2017
auf  2,6 Millionen, in  Prozenten sind dies 76 % und entspricht auch dem Mittelwert in NRW.

Zusammenstellung in einer Tabelle Pflegebedürftige 2017 zu Hause

Die erste Spalte enthält die Landkreise und Städte mit den jeweiligen Einwohner zum Stichtag 31.12.2018. Die folgende Prozentzahl, in der Spalte 2, ergibt sich aus der Gesamtzahl der durch die jeweilige Pflegekasse anerkannten pflegebedürftigen Versicherten zum Stichtag 31.12.2017. Je kleiner die erste Prozentzahl ist, je jünger werden die Einwohner in Stadt oder Kreis im Verhältnis sein. Für 2018 ist eine weitere Steigerung der Pflegebedürftigen zu erwarten. Die stationären Plätze verändern sich nur unwesentlich.

76 Prozent der anerkannt Pflegebedürftigen werden im Mittel in NRW bereits Ende 2017 zu Hause gepflegt.

  • Bei Beginn der Pflegeversicherung 1994 konnte sich jeder einen Heimplatz frei wählen. Nach 12 Jahren Diskussion wurde die Pflegeversicherung 1995 in Vollzug gesetzt; es gab genügend Bettplätze, es fehlte die Kriegsgeneration.
  • Heute darf ein Heimplatz nur mit Zustimmung des Medizinischen Dienstes gesucht und belegt werden. Fehlt das entsprechende Kreuz im Beurteilungsbogen, zahlt die Pflegeversicherung nur 80 % ihrer Leistungen. Die „Freie“ Wahl  dauerte von 1994 bis 2017 und  gehört der Vergangenheit an.

In Essen können 28 Prozent der anerkannt Pflegebedürftigen einen Heimplatz beanspruchen und 72 % werden in der Häuslichkeit gepflegt. In Oberhausen gibt es nur für 18 Prozent einen stationären Heimplatz und 82 % müssen zu Hause gepflegt werden.  Die Sorge wäre abgemildert, wenn dafür im Gegenzug genügend ambulante Hilfe zur Verfügung steht. Bezogen auf die beiden Städte Oberhausen (2) und Essen (17) soll beispielhaft die Tabelle weiter beschrieben werden.

In Oberhausen (2) werden 8.538 Personen (82%) zu Hause gepflegt und  2.838 (33,2%) erhalten ambulante Unterstützung, dies bedeutet 5.700 (67 %) der anerkannt pflegebedürftigen Bürger müssen in der eigenen Häuslichkeit ohne fachliche Unterstützung täglich gepflegt werden.

In Essen (17) werden 17.175 Personen (72%) zu Hause gepflegt und 5.436 (31,65%) erhalten ambulante Unterstützung. Von den zu Hause gepflegten erhalten zwar auch hier nur 32 % eine Unterstützung bei der häuslichen Pflege. Die Unterstützungsleistung im stationären Bereich ist jedoch um 10% größer.

Ein Schaubild nach der Größe der Kommune sortiert, zeigt die Spreizung zwischen der ambulanten Hilfe in der Häuslichkeit.

Für jede Kommune kann das entsprechend Verhältnis gebildet und mit den Durchschnittswerten abgeglichen werden. Den Lesern ist bekannt, dass sich die Situation der Pflege durch die Alterung verschlechtern wird. Soll der derzeitige Standard gehalten werden, bedarf es einer konkreten Planung und Ausweitung der bestehenden Angebote. Bereits heute ist für Oberhausen erkennbar, dass sich ambulante Dienste in 2020 vom Pflegemarkt mangels Fachkräfte und erhöhten Kosten verabschieden werden. In anderen Kommunen wird sich ein ähnlicher Trend aufzeigen.

Die Wertigkeit der Altenhilfe, die Pflege wird ein Wahlthema.

Mit diesem Beitrag wollen wir für jeden rechtzeitig bestehende, öffentliche Zahlen und nachvollziehbare Fakten liefern. Der Pflegemarkt darf nicht allein dem Profit und den Anbietern dienen. Gelder dürfen nicht weiterhin durch fehlende Kontrolle und Sanktionsmöglichkeiten zweckentfremdet werden.  Es ist eine gesellschaftliche Gesamtaufgabe, den letzten Lebensabschnitt selbstbestimmt in Würde zu leben. Nutzen wir bestehende Möglichkeiten, fordern wir Verbraucherschutz auf Augenhöhe.  Treten wir den Parolen „Heime sind schlecht“ entgegen und lassen die Angehörigen und deren Heimbewohner nicht weiter allein auf sich gestellt. Bauen wir vor, sollte einmal kurzfristig ein Heimplatz für uns oder einen Angehörigen benötigt werden!  Testen Sie zum SPASS den Heimfinder des Ministers.

Wir gehen davon aus, dass die Pflege älterer und hochaltriger Menschen grundsätzlich eine Aufgabe
der gesamten Gesellschaft ist; unter „Pflege“ verstehen wir nicht nur die Behandlungspflege im engeren Sinne, sondern auch Betreuungs- und Versorgungsaufgaben in der Nähe, die notwendig sind, um das Wohlergehen pflegebedürftiger Personen zu gewährleisten.

Die Verantwortung für die institutionelle Absicherung der Pflege obliegt in erster Linie der Pflegekasse (§ 69 SGB XI) den staatlichen Akteuren, nicht den Einrichtungen, den Betreibern. Es reicht nicht weitere entsprechende rechtlichen Regelungen oder Rahmenbedingungen zu schaffen, ohne gleichzeitig einen Anspruch zu gewährleisten. Die Verantwortung ist derzeit zu 80 Prozent mit steigender Tendenz allein auf die Familie verlagert, ohne dass eine wirkliche Abhilfe diskutiert oder gar in Sicht ist. Verschweigen, Wegschauen, ein weiter so, verschlimmert die Situation.

Die Einbindung der Angehörigen, Betroffenen, Besorgten, Verbraucherverbänden die Diskussion, Entscheidung und Umsetzung könnte Abhilfe schaffen

In einer konzertierten Anstrengung von nahestehenden Personen, Ehrenamt, Dienstleistern aus Medizin, Fachpflege, Hauswirtschaft und Betreuung sowie Gremienvertretern und Einrichtungen in Gremien im sozialen Nahraum (Quartier) können ältere und hochaltrige Menschen gut begleitet und gepflegt werden. 

Die Demokratie darf nicht vor der stationären Einrichtung enden! Heimbeiräte sind zu stärken, zu unterstützen. Schutzgesetze sind einzuhalten. Bestehende Ordnungswidrigkeiten sind zu ahnden.

Aktive Seniorenvertretungen eine Chance für Kommunen.