Prekär und weiblich in der Pflege

Pflege auf Kosten von Frauen?

Dass das so ist, hat Geschichte. Dass Fürsorge als eine scheinbar natürliche Eigenschaft von Frauen gilt, auch deshalb, weil Alte und Kranke schon seit Jahrhunderten überwiegend von Frauen betreut und gepflegt wurden. Der Kampf um berufliche Anerkennung, und der Ausbau von Pflegeeinrichtungen begannen erst spät und sind längst noch nicht abgeschlossen. Im Vergleich zu anderen Facharbeiter/innen verdienen Pfleger/innen noch immer deutlich weniger. „Pflegen kann doch jeder“. Damit wird nicht nur die Arbeit, die auf menschliches Wohlergehen zielt und nicht auf Profite zum Wohle für Profiteure abqualifiziert. Zudem kommen die gepflegten Menschen in diesem Bild von Pflege als Liebesdienst zu kurz. Gut gepflegt zu werden ist keine milde Gabe, sondern ein Anspruch, ein Menschenrecht und die Voraussetzung, um trotz Beeinträchtigungen an der Gesellschaft teilhaben zu können. Wenn das Pflegesystem dies nicht leistet, ist die Menschenwürde in Gefahr.

Inzwischen regt sich zunehmend Kritik an den Zuständen in der Pflege, in denen nicht nur mehr Geld, sondern mehr Personal und gute Versorgung gefordert wurde. Viele Protestaktionen, Petitionen und Klagen wenden sich gegen den Pflegenotstand. Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen schließen sich in Selbsthilfeorganisationen zusammen. Sie alle wollen sich nicht länger aufreiben und fordern Lösungen, eine bedarfsdeckende Finanzierung, einen Ausbau der Versorgungsstrukturen, ausreichend Bezahlung und Personal, kurz die Möglichkeit, so zu pflegen, wie es ihren Bedürfnissen entspricht.

Dazu sind grundlegende Veränderungen nötig: Es muss Geld in die öffentliche Daseinsvorsorge fließen, wo es allen zugutekommt. Nur so wird es möglich, die Arbeit gesellschaftlich gerecht zu verteilen und angemessen zu entlohnen. Um die Pflege aufzuwerten, muss sie raus aus der Sphäre des Unsichtbaren und Privaten. Bis heute gelten Pflegearmut und Überlastung oft als individuelle Probleme oder gar als persönliches Versagen. Langfristig braucht es Pflegeinfrastrukturen, die von den Beteiligten selbst mitgestaltet werden und die gute Arbeitsbedingungen und Versorgungsbedingungen für alle bieten. Pflege muss eine öffentliche Angelegenheit sein und keine, die auf Kosten der Beschäftigten und zu Pflegenden Profite abwirft.

In Deutschland wird die überwiegende Mehrheit der Menschen mit Pflegebedarf ganz oder teilweise von Angehörigen betreut. Von den rund 2,9 Millionen offiziellen pflegebedürftigen Menschen werden 73 Prozent zu Hause versorgt. Davon erhält die große Mehrheit, rund zwei Drittel, Unterstützung ausschließlich von Angehörigen, ein Drittel wird zusätzlich durch ambulante Pflegedienste versorgt. Die Angehörigen sind der Pflegedienst der Nation. Zwar entspricht die Pflege im vertrauten Umfeld häufig dem Wunsch der Menschen. Doch die Umstände sind meist nicht selbstgewählt. Ausreichend professionelle Unterstützung ist oft nicht bezahlbar. Angehörige oder andere Laien sind für die Aufgaben nicht ausreichend qualifiziert. Zudem bedeutet die Pflegeverantwortung häufig Überlastung, Stress und Altersarmut. Dennoch bleibt die Angehörigenpflege das vorherrschende Modell und das ist kein Zufall: Im deutschen Wohlfahrtsstaat wird Pflege gezielt als Familienangelegenheit organisiert.

Bei einer nur lückenhaften Grundversorgung durch die Pflegeversicherung kann von Wahlfreiheit keine Rede sein. Zu oft sind Angehörige ein unfreiwilliger Ersatz-Pflegedienst. Das Pflegegeld, das die gepflegten Personen oft an ihre Angehörigen weitergeben, ist nicht mehr als eine Aufwandsentschädigung, kann den Einkommensverlust durch Jobverzicht oder Teilzeitarbeit nicht wettmachen und reicht schon gar nicht zum Leben. Wenn etwa eine Frau ihren dementen Ehemann (Pflegegrad 2) in Vollzeit pflegt, werden nur 316 Euro Pflegegeld ausgezahlt. Wenn ein Rentner für seine schwerbehinderte Partnerin (Pflegegrad 5) rund um die Uhr da ist, sind es 901 Euro Pflegegeld. Wer den vollen Pflegegeldsatz in Anspruch nimmt, hat keinerlei Anspruch mehr auf zusätzliche Unterstützung. Besserverdienende und Vermögende lösen das Problem, indem sie Unterstützung hinzukaufen. Wer das Geld dafür nicht hat und den Knochenjob nicht selbst machen kann, muss für die Pflege die Ersparnisse aufbrauchen oder sich, was immer häufiger vorkommt, verschulden.

Prekäre und stressige Arbeitsverhältnisse lassen vielen Menschen auch ohne Pflegeverantwortung zu wenig Zeit, um sich um andere oder um sich selbst zu kümmern. Kommt noch die zeitintensive Pflege eines nahestehenden Menschen hinzu, ist das unter den heutigen Bedingungen oft nicht vereinbar mit dem Job und führt zum Ausstieg aus der Erwerbsarbeit. Das damit verbundene Armutsrisiko trifft vor allem Frauen. Zwei Drittel der pflegenden Angehörigen sind weiblich, zu einem überwiegenden Teil im erwerbsfähigen Alter.Viele von ihnen arbeiten in Teilzeit, rund 60 Prozent sind nicht erwerbstätig, 27 Prozent haben die Erwerbsarbeit für die Pflege aufgegeben. Wer aufgrund der Pflege seinen Beruf aufgibt, muss häufig in der Folge Hilfe zum Lebensunterhalt beantragen. Wer Angehörige mit einem Pflegegrad unterhalb von Stufe 2 pflegt, gilt im Hartz-IV-System als voll erwerbsfähig, als quasi arbeitslos, und muss nicht selten Sanktionen fürchten, wenn er oder sie dem Arbeitsmarkt nicht voll zur Verfügung stehen kann. Längere Pflegezeiten führen außerdem zu niedrigeren Rentenansprüchen und verschärfen die Gefahr der Altersarmut. Pflegearmut) hat damit in der Mehrzahl ein weibliches Gesicht. Zum einen, weil von Frauen noch immer erwartet wird, sich besonders verantwortlich für die Pflege zu fühlen. Zum anderen, weil sie immer noch im Schnitt weniger verdienen als Männer und ihr Beitrag zum Haushaltseinkommen eher als verzichtbar gilt.

Zu den finanziellen Sorgen kommen andere Belastungen, rund um die Uhr verfügbar und an das Haus gefesselt zu sein, keine Zeit für Muße und für Ausgleich zu haben. In einer Befragung bewerteten rund 58 Prozent der privat Pflegenden die Aufgabe als sehr belastend, rund 38 Prozent gaben an, kaum noch Kontakt zu anderen Menschen zu haben. Zugleich steht man permanent in einer engen Beziehung zu der gepflegten Person, was es erschweren kann, ausreichend Pausen einzulegen und einen gesunden Abstand zur Arbeit zu finden. Der andauernde Zeitstress und das Jonglieren mit unlösbaren Anforderungen führen oft zu Erschöpfung. Die psychischen Belastungen und das Risiko, selbst zu erkranken, sind für pflegende Angehörige überdurchschnittlich hoch, das gilt insbesondere für psychische oder psychosomatische Erkrankungen. Da Pflege als Privatsache gilt, wird eine Überforderung oft als individuelles Versagen gedeutet. Obgleich Millionen Menschen in einer ganz ähnlichen Zwangslage stecken, bleibt ihr Leid weitgehend unsichtbar.