Was Pflegekräfte über Sexualität im Alter wissen sollten

Auch Alte Menschen haben Sex!

Zwischen Tabu, Grenzüberschreitung und Lebenslust

Vor den Hintergrund, wie die Sexualität alternder, pflegebedürftiger Menschen aktuell in unserer Gesellschaft wahrgenommen wird, stellen sich viele Fragen, die einen weiten Bogen um das Thema spannen und unterschiedliche Perspektiven beleuchten.

° Was geschieht in den einzelnen Einrichtungen der Altenheime und Sozialen Arbeit in punkto Bewohner bzw. Bewohnersexualität?

° Wie kann ein Pflegeteam den sexuellen Bedürfnissen von Bewohnern gerecht werden?

° Wie können die persönlichen Grenzen anderer gewahrt und geschützt werden?

° Was tun mit Bewohnern, die kognitiv nicht mehr in der Lage sind, Sexualität als Intimität zu verstehen?

Mit dem Einzug in eine Einrichtung der Altenpflege verändert sich das Leben der Betroffenen radikal. Sie können nicht mehr daheim in der vertrauten intimen Atmosphäre der eigenen Wohnung leben, sondern sind genötigt, die Tage und Nächte in einer Pflegeeinrichtung zu verbringen. Ein bewusstes Ausleben der Sexualität, wie im eigenen Zuhause, ist nicht mehr möglich, denn alltagsbedingte Störungen und nicht abschließbare Türen sind im institutionalisierten Umfeld der Normalfall. Oft sind zudem der Partner oder Partnerin nicht mehr vorhanden, der Fokus sexueller Begierden verschiebt sich daher oft auf das Pflegepersonal oder andere Bewohner und Bewohnerinnen, die dies als übergriffig und bedrohlich empfinden. Zwangsläufig wird so auch die eigene Sexualität der Pflegenden zum Thema. Denn finden regelrecht körperliche Übergriffe statt, werden die Grenzen der Scham, des Ekels, der Abscheu überschritten. Pflegende fühlen sich angesichts dieser Situationen ohnmächtig, ihre eigenen sexuellen Werte und Anschauungen geraten auf den Prüfstand. Sexualität kennt jeder, trotzdem scheint es sinnvoll sich vor Augen zu führen, was Sexualität eigentlich ist und welche Aspekte gerade hinsichtlich der Sexualität im Alter und in der Altenhilfe bekannt sein sollten. Sexuelle Verhalten von Menschen, auch in Altenhilfeeinrichtungen, ist in der Bedeutung immer noch ein Tabuthema, obwohl, die Sexualität ein physiologisches Grundbedürfnis ist. Den Sexualität verbessert das Immunsystem, wirkt wie Schmerzmittel, stärkt die Muskulatur und hilft auch gegen Depressionen.

Das Personal

Aufgrund einer Verharmlosung der sexuellen Übergriffe sind beispielsweise unerfahrene Pflegekräfte wie Auszubildende der Altenpflege verunsichert, verstört und trauen sich nicht mehr allein zu den Pflegenden. Sie wurden etwa zu Heimbewohnern oder Heimbewohnerinnen geschickt, mit deren sexuellen Anspielungen und Berührungen sie völlig überfordert waren. Fast zwei Drittel von ihnen, insbesondere Frauen, waren schon einmal sexuell belästigt worden, durch anzügliche Witze, Grabschen, handfeste Übergriffe, dazu Kollegen*innen und Vorgesetzte, die sich darüber lustig machten und so das Leiden bagatellisierten. Die Pflegekraft müsse dann klar sagen: Nein, stopp. Das geht nicht. Dies sei zwar manchmal schwierig und man muss den Mut haben, auch mit Kollegen*innen darüber zu reden, damit die Pfleger*inne diesen Beruf irgendwann unerträglich finden, weil Sie permanent das Gefühl haben, wir werden hier angegrabscht und wir können uns gar nicht dagegen wehren.

Einrichtungen sollten für ein sexualfreundliches Klima sorgen

Einrichtungen müssen wiederum für ein sexualfreundliches Klima sorgen (z. B. Bereitstellung von Pflegedoppelbetten und von einem Snoezelraum, der für sinnliche Erfahrungen allein oder zu zweit eingerichtet ist)

Snoezelen kommt aus dem niederländischen und setzt sich aus zwei Worten zusammen, einmal aus snuffelen (schnüffeln) und doezelen (dösen). Für wen ist Snoezelen aber geeignet? Es ist für Querschnittgelähmte geeignet wenn aufgrund des erlittenen Traumas Zustände der Ruhe oder Antriebslosigkeit eintreten. Hier kann die Methode, je nach Umsetzung, beruhigend oder stimulierend wirken. Snoezeln ist ein multifunktionales Konzept und wird mit Wohlfühlen und Beschäftigung in Verbindung gebracht. Durch das Snoezelen werden Sinnesempfindungen ausgelöst, welche in verschiedensten Wahrnehmungsbereichen wirken. Die Wirkung kann sowohl entspannend, jedoch auch aktivierend sein. Der Snoezelraum ist ein pädagogischer Ort. Es gilt, das Pflegepersonal zu schulen und sexuelle Bildung und Beratung für die Gepflegten anzubieten.

Außerhalb von Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe können, je nach geistigen und körperlichen Möglichkeiten, die üblichen Wege der Offline und Online. Partnersuche beschritten werden, etwa über Tanzveranstaltungen, Singletreffs und Datingapps. Es gibt einige auf Menschen mit Beeinträchtigungen spezialisierte Online-Datingbörsen und Singletreffs.

Sexualbegleitung

Für Menschen mit Pflegebedarf, die sich dauerhaft keine sexuellen Kontakte organisieren können, ist Sexualbegleitung eine Option. Fachkräfte werden unter anderem am Institut Selbst Bestimmung Behinderter (ISBB) Trebel ausgebildet. Sexualbegleitung umfasst neben der angesprochenen Hilfe bei der sinnlichen und sexuellen Selbststimulation auch partnersexuelle Aktivitäten wie gemeinsames Nackt sein Vorteil der Sexualbegleitung besteht darin, dass sie sich auf die Besonderheiten der jeweiligen Einschränkung einstellen, medizinisch beziehungsweise pflegerische Kenntnisse mitbringt und zum sexuellen Empowerment beitragen will. (mit Empowerment von englisch Empowerment Ermächtigung, Übertragung von Verantwortung bezeichnet man Strategien und Maßnahmen, die den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung im Leben von Menschen oder Gemeinschaften erhöhen sollen und es ihnen ermöglichen, ihre Interessen wieder oder eigenmächtig, selbstverantwortlich und selbstbestimmt zu vertreten) Regelmäßige Besuche einer Sexualbegleitung können laut Praxiserfahrungen auf Menschen mit Pflegebedarf heilsam und beruhigend wirken und sexuell unangemessenes Verhalten reduzieren. Manche Menschen mit Pflegebedarf bevorzugen anstelle von Sexualbegleitung die reguläre Prostitution. Die Branche wiederum stellt sich zunehmend auf den demografischen Wandel ein, akzeptiert Menschen mit Pflegebedarf und wirbt mit barrierefreien Tantra-Studios und Bordelle. Die Inanspruchnahme legaler Prostitution darf im Sinne gleichberechtigter sexueller Teilhabe Menschen mit Pflegebedarf nicht vorenthalten werden.

Einrichtungen, Pflegeteams und pflegende Angehörige unterscheiden sich aber bislang stark darin, ob sie Besuche von Sexdienstleistenden erlauben beziehungsweise den Besuch entsprechender Betriebe unterstützen oder nicht. Dahinter stehen nicht selten infantilisieren Stereotype, denen gemäß Menschen im höheren Alter oder mit Behinderungen allenfalls ein Wunsch nach Kuscheln zugestanden wird, nicht aber das Verlangen nach dem gesamten Spektrum sexueller Verhaltensweise. Die Kontroverse darum, ob Prostitution generell als moralisch falsch und Ausdruck von Frauenunterdrückung einzuordnen ist, oder ob, freiwillige Sexarbeit von Frauen, Männer und Trans Personen als legitime Erwerbsarbeit anzuerkennen ist, beeinflusst ebenfalls die unterschiedlichen Haltungen innerhalb der professionellen und informellen Pflege.

Wenn Angehörige und Kommunen bereit und in der Lage sind, dafür um die 200 Euro zu bezahlen, können sie eine Sexualassistenz einladen, speziell ausgebildete Frauen und Männer, die sich mit Behinderungen und Gerontologie auskennen, und die Zärtlichkeiten wie manchmal auch Geschlechtsverkehr anbieten.

Recht auf Vielfalt sexuellen Selbstausdruck

Wenn von sexualfreundlichen Bedingungen in der Pflege gesprochen wird, dann ist es wichtig, ein vielfältiges Bild von geschlechtlichen und sexuellen Identitäten vor Augen zu haben. Je nach kulturellem religiösem, familiärem und lebensgeschichtlichem Hintergrund hat jeder Mensch ganz individuelle sexuelle Wünsche und Ausdrucksformen. Deswegen gilt es, bevormundende und rigide Vorstellungen von richtiger Sexualität zu vermeiden. Besondere sexuelle Vorlieben und Fetische, die manche Menschen ein Leben lang begleiten, sind auch bei Pflegebedürftigkeit weiterhin präsent. Sie sind aus menschenrechtlicher Perspektive anzuerkennen und nicht moralisch zu verurteilen.

Während eine akzeptierende und unterstützende professionelle Haltung gegenüber ungewöhnlichen sexuellen Spielarten in Psychologie und Medizin inzwischen als ungewöhnliche sexuelle Vorlieben eingefordert und gefördert wird, fehlt dieser wichtige Aspekt in der bisherigen Diskussion um Sexualität in der Pflege.

Sexualität ist wichtig!

Zur Vertiefung:

„Zwischen Tabu, Grenzüberschreitung und Lebenslust“ ein Beitrag aus Politik und Zeitgeschen von Nicola Döring

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