Das deutsche Pflegesystem, Geschäfte mit der Not der Betroffenen

Gut 70 Prozent der Pflegebedürftigen werden von einem Angehörigen zu Hause gepflegt. Durch fehlende Einrichtungsbetten müssen im Ruhrgebiet über 80 % zu Hause gepflegt werden.

In den meisten Fällen sind es Ehepartner, Töchter, Schwiegertöchter oder (vereinzelt) Söhne, die ihr Leben in den Dienst eines kranken Familienmitglieds stellen, über Monate und Jahre. Oft bis zur völligen Isolation, Erschöpfung und Verarmung. Nicht selten wird die Gutgläubigkeit und Opferbereitschaft naher Angehöriger von Fachleuten und Dienstleistern ausgenutzt, die sich darauf spezialisiert haben, Geschäfte mit der Not Betroffener zu machen.

Das deutsche Pflegesystem setzt auf den unentgeltlichen Liebesdienst von Angehörigen.

Dieser Liebesdienst wurde bereits bei Einführung der Pflegeversicherung in der Größenordnung um die 70 Prozent einkalkuliert. Die übrigen 30 Prozent der Pflegebedürftigen, bei denen die häusliche Pflege durch Angehörige und Dienste nicht sicher gestellt werden kann, müssen ob sie wollen oder nicht ins Heim.

Mit unseren Beiträgen zur Pflegeversicherung werden vor allem Heimbetreiber begünstigt, damit die knappen stationären Pflegebetten ermöglicht werden.

Fast 80 Prozent der Ausgaben der Pflegeversicherung fließen in die stationäre Pflege. Mit dem Ergebnis, dass seit Einführung der Pflegeversicherung privat geführte Heime wie Pilze aus dem Boden sprießen und nach wie vor auf dem Pflegemarkt Goldgräberstimmung herrscht. Kein Wunder, dass Pflegeheime in Deutschland von Investoren als sichere Bank bewertet werden, bei einen Umsatz von 30 Milliarden Euro in der Pflege.

Ambulant vor stationär, so lautet der Leitspruch der deutschen Politik.

Klingt erst mal gut. Wer möchte nicht zu Hause alt werden? Bei genauerem Hinsehen jedoch verbirgt sich dahinter eine gigantische Sparmaßnahme des Staates, der so Verantwortung und Kosten auf die Frauen abwälzt, sie übernehmen 90 Prozent der Pflege zu Hause. Und auf die Wirtschaft. Denn die Privatisierung der Pflege war vor 23 Jahren eine sehr bewusste Entscheidung der Politik.

In keinem anderen Land ist die Gefahr so groß, die letzten Lebensmonate in einem Heim verbringen zu müssen. Während unsere Nachbarn den Angehörigen unter die Arme greifen und die, häusliche Hilfen ausbauen (Schweden, Dänemark, Niederlande, Norwegen, Finnland und Island), damit das Pflegeheim tatsächlich die Ultima Ratio bleibt, subventioniert Deutschland den weiteren Ausbau von Heimplätzen. Bis 2030 rechnet die Branche mit einem Umsatz von 84 Milliarden Euro. Dabei weis doch jeder um die Schwierigkeit das nötige Pflegepersonal zu finden. Da hilft auch die App des Landes nicht. Aber das scheint die Politik und die Branche nicht zu kümmern. Vielmehr rechnet sie damit, dass die Gesetze der Situation angepasst werden. Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, hat bereits angekündigt, die Fachkraftquote senken zu wollen. Zweifelsohne verstehen es die Nutznießer am deutschen System mit der Politik gemeinsame Sache zu machen. Sie sind es die unseren Abgeordneten einreden, dass ambulante Versorgungsstrukturen wie in Skandinavien oder Niederlanden hierzulande nicht funktionieren. Die bisherigen Gesundheitsminister haben sich allesamt vor den Karren der Lobbyisten der Heimbetreiber spannen lassen.

Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung sind Pflegeheime auch für solche Investoren interessant, die ihr Vermögen gerne am Finanzamt vorbeischleusen….

Ausführlich beschreibt der Kanzleipartner seinem Kunden die Vorzüge des deutschen Gesundheitssystems: Staat und Kassen zahlten verlässlich, und  die Heimbetreiber kümmerten sich eigenständig darum, über Ärzte und Krankenhäuser neue, zahlende Bewohner anzulocken.

Angehörige sind individuell betroffen und auf sich gestellt. Abgesehen von ein paar wenigen, die sich organisieren, haben diese weder die Zeit noch das Wissen noch die Kraft für bessere Bedingungen zu kämpfen. Über das hin- und hergerissen Sein von Angehörigen könnten auch wir Bände schreiben. Wer die Beherrschung verliert, muss damit rechnen, dass das Betreuungsgericht eingeschaltet wird. Auch dies eine unrühmliche Auswirkung des deutschen Pflegesystems, in dem nicht zuletzt die Gerichte eine gewichtige Rolle spielen.

Betroffene. die es sich finanziell und räumlich leisten können, suchen Unterstützung auf dem Markt der sog. 24 Stunden Pflege beziehungsweise bei einer der zahllosen Agenturen, die Helferinnen und Helfer aus Osteuropa und anderen Billiglohnländern vermitteln. Auch bei dieser Suche im Grauen Markt sind Betroffene und Angehörige völlig auf sich gestellt. Weder von den Kassen noch den Kommunen können sie hier eine Beratung oder gar finanzielle Unterstützung erwarten. Dem Staat ist bekannt, dass schätzungsweise 200.000 Hilfskräfte aus Billiglohnländern ohne Papiere und notwendige Sozialversicherung in deutschen Haushalten tätig sind. In Ermangelung von Alternativen wird stillschweigend darüber  hinweg gesehen.

Angehörige stellen den größten Pflege(not)dienst der Nation.

In Deutschland lässt sich aktuell folgende widersinnige Haltung feststellen: Auf der einen Seite setzt der Staat darauf, dass die Pflege von den nächsten Angehörigen als Liebesdienst unentgeltlich übernommen wird, auf der anderen Seite jedoch wurde die Rechtsstellung der Angehörigen sukzessive geschwächt, nicht zuletzt durch das Betreuungsgesetz (§ 1896 BGB ff). Waren Ehepartner vormals im Fall von Krankheit und Pflegebedürftigkeit automatisch vertretungsberechtigt, müssen sie diese Berechtigung heute durch eine Vorsorgevollmacht nachweisen. Auch als Mutter, Tochter, oder Söhne eines pflegebedürftigen gewordenen volljährigen Angehörigen, muss ich eine von diesem ausgestellte Vollmacht vorlegen, um in dessen Namen tätig werden zu dürfen. Ärzte und Pflegekräfte dürfen streng genommen Angehörigen nur dann informieren und zurate ziehen, wenn diese eine Vollmacht vorweisen oder vom Gericht als Betreuer bestellt wurden.

Das deutsche Pflege und Betreuungssystem ist familienfeindlich

Ein sicherlich gut gemeintes Fürsorgesystem, dessen negative Auswirkungen jedoch nicht bedacht wurde. So können wir heute von Nationen lernen, die andere Wege gegangen sind. Insbesondere von Skandinavien und den Niederlanden. In diesen Ländern sieht es der Staat als seine Pflicht an, dafür zu sorgen, dass jeder in seinem Zuhause die Hilfe und Pflege erhält, die er benötigt, damit er nicht in ein Heim muss. In diesen Ländern wird von Angehörigen nicht erwartet, ihren Beruf aufzugeben um die Pflege der alten Eltern zu übernehmen. Dort wird eine hochbetagte Ehefrau nicht alleine gelassen, mit der Sorge um den pflegebedürftigen Mann, oder umgedreht. Auch in Österreich wurde mit Deutschland eine Pflegeversicherung installiert, von Anfang an mit 5 Pflegestufen und einem einheitlichen Pflegeentgelt für den Betroffenen, keine diskriminierende Unterscheidung in sogenannte Sach- und Geldleistung. 

In besagten Nachbarländern werden Angehörige einbezogen und gemeinsam mit diesen nach Lösungen gesucht. In Deutschland sehen sich Angehörige hingegen als lästige Bittsteller behandelt, denen es nur ums Geld geht. Wir haben ein System, das Angehörige nötigt, einem Pflegebedürftigen möglichst viele Unfähigkeiten zu bescheinigen, um einen höheren Pflegegrad zu erhalten. Selbst Anträge auf Pflegebetten, Rollstühle und andere Hilfsmittel, werden hierzulande oft zurückgewiesen, je nachdem bei welcher Kasse der Betreffende pflegeversichert ist. Nicht selten müssen Betroffene/Angehörige den Hausarzt wechseln, in der Hoffnung ein anderer würde die Beantragung von Krankengymnastik, Logopädie oder weitere Maßnahmen unterstützen. Außerdem sorgt das deutsche Fallpauschalsystem mit der „blutigen Entlassung“ dafür, dass die wachsende Zahl der Pflegeheime ausgelastet bleibt.

In Skandinavien kommt kein Gutachter einer Kasse, der prüft wie hoch der Pflegegrad ist und wie viel Geld gezahlt wird. Bis zu einem geringen Eigenanteil von zwischen 5 und 10 Prozent werden alle Unterstützungsleistungen aus Steuermitteln der Kommune bezahlt. Nur wenn es gar nicht anders geht, kommt das Altenheim in Betracht. Wobei die Altenheime vergleichbar den Schulen und Kindergärten staatliche bzw. kommunale Einrichtungen sind, deren Bau und Unterhalt aus Steuermitteln finanziert wird, nicht wie bei uns durch die Pflegesätze pro Bewohner. Während wir Pflichtbeiträge in eine Pflegekasse zahlen, haben die skandinavischen Länder die Kosten für die Altenpflege im Hebesatz der Steuern berücksichtigt, Gewinne für Einrichtungsträger entfallen. Von der personellen Ausstattung der ambulanten Pflegedienste und Heime können wir in Deutschland nur träumen.

Die skandinavischen Systeme sind nicht nur getragen von der Idee, dem einzelnen Individuum im Sinne von , Hilfe zur Selbsthilfe“, jenes an staatlichen Unterstützungsleistungen zukommen zu lassen, das er oder sie benötigt, um möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Das Denken wird auch umgesetzt. Bei vielen älteren Menschen reicht es, wenn sie regelmäßig ins kommunale Seniorenzentrum kommen oder gebracht werden, wo sie dann mit anderen älteren Menschen gemeinsam essen und gewissen Aktivitäten nachgehen. Wird permanente Pflege und häusliche Unterstützung benötigt, kann es um wenige Stunden pro Woche ebenso gehen wie um einen 24-Stunden Betreuung.

Menschliche Pflege und gute Qualität sind nicht in erster Linie eine Frage des Geldes. Selbst wenn Deutschland die Pflegeversicherungsbeiträge um mehrere Prozentpunkte erhöhen würde, würde unser System dem skandinavischen unterlegen bleiben, sofern weiterhin die falschen Anreize gesetzt werden. Hierzulande produzieren wir einen Großteil unserer Pflegebedürftigen selbst.

Deutschland ist auf dem traurigen Weg, die einen können mit Pflege sehr schnell reich werden, andere müssten über die Maßen arbeiten, wenn sie das in der Häuslichen pflege erbringen sollten, was hilfreich wäre, was aber nicht bezahlt wird.

Wir können nur die Situation aufzeigen. Wenn wir uns alle um unser Älterwerden kümmern und aktiv die Bewohner und die gewählten Interessenvertreter in den Einrichtungen in der Umsetzung ihrer Rechte stärken, wird sich langsam ein Umdenken ergeben. Wegschauen verschlimmert die Situation in der häuslichen Pflege.

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