Hartz- IV: Das Trauma der Partei reicht viel tiefer

Die Fehler der Parteifunktionäre der SPD wird nur durch Vergebung der Bürger überwunden!

Kann Generalsekretär Kevin Kühnert die Weichen stellen?

Hartz IV macht nicht bloß viele Menschen arm, sondern auch krank. Der massive Druck, den Jobcenter auf Bezieher/innen des Arbeitslosengeldes ausüben, zieht nicht selten Depressionen nach sich. Das vorgeblich aktivierende Hartz-IV System führt das Arbeitslosengeld zwei (2) für Bezieher/innen oftmals in einen Teufelskreis aus Perspektivlosigkeit und Passivität hinein, in dem mit Frustrationserfahrungen, Überhand nehmenden Resignationstendenzen und sinkendem Anspruchsniveau auch die Eigenaktivität nachlässt: Wer sich nicht mehr intensiv um sich selbst sorgt, wer permanent Abstriche nicht nur bei der Job-, sondern auch bei der Lebensqualität macht, der verliert allmählich auch den Antrieb, seine individuelle Erwerbs- und Lebenslage aktiv zu verändern. Außerdem setzt diese Regelung auf Angst, was dem sozialdemokratischen Menschenbild widerspricht.

Unterscheidet man zwischen Betroffenen und Profiteuren/innen der Arbeitsmarktreform, gibt es neben den Verlierergruppen auch Nutznießer/innen und Gewinner/innen. Dazu gehörten bisherige Sozialhilfebezieher/innen, die erwerbsfähig waren und nun die Eingliederungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch nehmen konnten, sofern die Jobcenter sie in deren Genuss kommen ließen und ihre Fördermaßnahmen nicht auf Höherqualifizierte konzentrierten. Die eigentlichen Profiteure der rot-grünen Arbeitsmarktreformen waren jedoch Unternehmen auf der Suche nach Arbeitskräften, die möglichst billig, willig und wehrlos sein sollten. Getreu dem Grundsatz, wonach (nahezu) jede Arbeit besser ist als keine, zielt Hartz IV auf die möglichst umfassende Internalisierung eines allgemeinen Arbeitszwangs. Mit dem Gesetz wurde nicht bloß enormer Druck auf Langzeiterwerbslose, sondern auch auf das Lohnniveau ausgeübt. Reallohnverluste vor allem im unteren Einkommensbereich waren die Folge. Aufgrund der verschärften Zumutbarkeitsregeln und der massiven Sanktionsdrohungen führt Hartz IV dem Niedriglohnsektor ständig neuen Nachschub zu.

Unter dem Damoklesschwert von Hartz IV sind Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften außerdem eher bereit, schlechte Arbeitsbedingungen und, oder niedrigere Löhne zu akzeptieren. Schließlich bescheren sinkende Löhne und Gehälter von Arbeitnehmer/innen deren Arbeitgeber höhere Gewinne. Für die Bezieher/innen von Arbeitslosengeld II ist Hartz IV ein Disziplinierungsinstrument und für normale Arbeitnehmer/innen eine Drohkulisse und ein Druckmittel. Hingegen bieten die Grundsicherungsleistungen für Arbeitgeber die Möglichkeit, Hartz IV gewinnsteigernd als Kombilohnmodell zu nutzen. Für exzessives Lohndumping betreibende Unternehmer, die überwiegend aus der Leiharbeitsbranche stammen, bildet das an sogenannte Erwerbsaufstocker/innen gezahlte Arbeitslosengeld II eine indirekte Subvention, deren Höhe sich auf über 12 Milliarden Euro pro Jahr beläuft.

Hartz IV hat einen sozialen Klimawandel bewirkt und die politische Kultur der Bundesrepublik nachhaltig beschädigt. Hauptleidtragende waren die Arbeitnehmer/innen die Langzeit- und Dauererwerbslose wurden nun öffentlich als Drückeberger, Faulenzer und Sozialschmarotzer diffamiert wurden. Die Idee, dass Menschen faule Säcke sind, die man unter Druck setzen muss, passt Ideengeschichtlich und normativ nicht zur SPD. Aber  sie passt zu autoritären Regimen. Menschen, denen so etwas unterstellt wird, fühlen sich gekränkt und ungerecht behandelt. Zumal es ihnen nicht von Unternehmerverbänden oder von Konservativen gesagt wurde, sondern von ihrer eigenen Partei, der SPD. Das produziert gravierende Vertrauensverluste. Selbst als die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles im November 2018 erklärte, Hartz IV hinter sich zu lassen, hatte sie nicht alle Spitzenfunktionäre hinter sich. Dass die SPD aufgrund der Agenda 2010 hunderttausende Mitglieder und mehrere Millionen Wähler/innen verlor, hat sie nicht zu glaubwürdiger Selbstkritik veranlasst. Statt die aktivierende Arbeitsmarktpolitik für grundfalsch zu erklären, räumt man nur ein, dass sie heute fehl am Platze sei, weil inzwischen Fachkräftemangel statt Massenarbeitslosigkeit herrsche. Unterschwellig lautet die Botschaft: Wenn der Arbeitsmarkt in dem sich anbahnenden Konjunkturrückgang erneut aus den Fugen gerät, machen wir dieselbe Politik wie damals Gerhard Schröder und Wolfgang Clement.

Retten wir die Wirtschaft

Dabei hat deren Regierungspraxis den Niedergang der SPD eingeleitet, und zwar nicht bloß wegen der massenhaften Enttäuschung potenziell Betroffener, sondern auch, weil die Partei ihre eigene sozialstrukturelle Basis mit Hartz IV zerstört hat. An die Stelle aufstiegsorientierter und selbstbewusster Facharbeiter/innen sind vielfach Niedriglöhner/innen getreten. Diese unterstützen nicht mehr aus Traditionsbewusstsein oder in alter Verbundenheit die SPD. Aus Enttäuschung über deren Politik und dem Anspruch der Partei und die eigene soziale Perspektivlosigkeit gehen sie gar nicht mehr wählen oder wählen aus Verzweiflung womöglich die AfD, deren Parteiname sie als erhoffte Alternative zum Neoliberalismus ausweist (liberalis; freiheitlich ist eine Form des Wirtschaftsliberalismus, die nach den besten Bedingungen für funktionierende Märkte sucht. Dem Staat wird dabei die Aufgabe zugewiesen, die Wettbewerbsordnung festzusetzen). Schließlich haben Gerhard Schröder und Angela Merkel ihren Regierungskurs allzu oft als alternativlos dargestellt. Indem die etablierten Kräfte, einschließlich beträchtlicher Teile der politischen Linken, sich der neoliberalen Sachzwangslogik ergeben haben, kann der Rechtspopulismus sich als die alternative Kraft inszenieren, die ein Primat der Politik wiederherstellt.

Dass die Angst vor dem sozialen Abstieg durch Hartz IV bis zur Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist, nutzt der AfD ebenfalls. Angst verleitet Menschen zu irrationalen Reaktionen, weshalb sich das deutsche Kleinbürgertum in ökonomischen Krisen und gesellschaftlichen Umbruchsituationen politisch vorwiegend nach rechts orientiert. Erfolgreich ist der Rechtspopulismus auch, weil seine Mittelschichtsideologie eine Zwangslage fleißiger Bürger/innen zwischen korrupten Eliten und faulen Unterschichten konstruiert. Mittelschichtsangehörige, denen die etablierten Parteien keinen Schutz vor Deklassierung bieten, erkennen ihr Weltbild in dem rechtspopulistischen Narrativ wieder, dass sie als die eigentlichen Leistungsträger/innen der Gesellschaft nach Strich und Faden ausgeplündert werden. Wenn sich außerdem die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, die sozioökonomische Ungleichheit wächst und der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet, gerät die Demokratie in Gefahr. Dass die Bundesrepublik heute, nach dem Einbruch des Exportes, vor einer sozialen und politischen Zerreißprobe steht, ist nicht zuletzt Hartz IV geschuldet.

Retten wir die Bürger

Eine Chance diesem Dilemma endlich zu entkommen, wäre die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, wie es seit vielen Jahren und in vielen verschiedenen Varianten kontrovers diskutiert wird. Wenn Menschen arm sind, liegt das vor allem daran, dass sie nicht genug Geld haben. Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens wäre wahrhaft ein historischer Einschnitt. Eigenverantwortung würde dann nicht mehr bedeuten, im Rahmen staatlicher Disziplinierungsmaßnahmen kooperieren und die eigene Arbeitskraft oft weit unter Wert verkaufen zu müssen, sondern sie wäre eine Chance, das Leben auch unter schwierigen Umständen, mit sanktionsfrei zur Verfügung stehenden Mitteln und damit in voller Achtung, in die Hand nehmen zu können. Der erste Schritt ist das Verbot der Leiharbeit und Werksverträge. Jeder Unternehmer muss wieder direkt die Verantwortung für das Produkt und die Arbeitnehmer übernehmen.

Fazit:

Bemerkenswert ist, dass der damit einhergehende Verzicht auf Wertedebatten innerhalb der SPD und ihre orientierende Kraft im politischen Spektrum sowohl konservative als auch progressive Kräfte traf. Konservative Wertvorstellungen oder Tugenden wie Ordnung, Familie, wurden im Zuge der Durchökonomisierung alle Arbeiter und Angestellten in der gesellschaftlichen Sphären ebenso an den Rand gedrängt, wie progressive Bezüge zu Gerechtigkeit, und Solidarität. Wenn sie ihre Politik und ihr Handeln nicht wertebasiert begründen können, verlieren sie ihren Identitätskern. Diese Entwicklung ist für eine progressive Bewegung wie die Sozialdemokratie besonders schwierig, Sozialdemokraten sollten zeigen, wie eine Gesellschaft aussehen soll, die besser, gerechter, freier und solidarischer ist als die gegenwärtige Sozialdemokratie der SPD. Die Partei fehlt die argumentierende Leidenschaft. Ihr fehlt die Freude daran, Heimat zu sein für ein möglichst breites Spektrum von Menschen für kleine Angestellte, Arbeiter, Akademiker und Bürger.

Wird die Partei der Forderung nach notwendiger Bildung und eigenständigem Denken in der Ampelkoalition nachkommen? Wie anders ist es zu erklären, dass die eigenen Bildungseinrichtungen ausnahmslos geschlossen wurden, obwohl Bildung weiterhin auf der Fahne steht.

Ein Besinnen auf alte Tugenden, Bildung und Solidarität, die der Partei indirekt noch zugeschrieben werden, wird solange verhindert, wie „altgediente“ als Vorsitzende bei Stiftungen sich als Vertreter und Bewahrer in Regierungsverantwortung verstehen. Eine große Hoffnung liegt auf Martin Schulz und Kevin Kühnert.

Anspruch und Wirklichkeit

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