Frühe Kindheit

Wohnumgebung 

Ich wurde im April 1939 in Halle an der Saale quasi in den Krieg hinein geboren. Meine Eltern waren gerade aus Thüringen wegen der Arbeitsstelle meines Vaters nach Halle gezogen, denn Halle war damals in einem Riesenaufbruch. Bedingt war dieser Vorgang durch die aufkommende chemische Industrie, insbesondere die Leuna- und Buna-Werke, in denen unter anderem Kautschuk verarbeitet wurde, den man für den künftigen Krieg benötigte. Ferner gab es Werke für den Flugzeugbau und andere Industrien, sodass auch in Halle sehr viele Wohnungen, ja ganze Stadtteile neu erbaut wurden. Auch meine Eltern bezogen dort eine 3-Zimmer-Neubauwohnung.

Bunker und Luftbedrohung

An einige Dinge im Krieg aus meiner Kinderzeit habe ich eine vage Erinnerung, die begann etwa mit dem Beginn meines 4. Lebensjahres, also ca. 1944. Was davor geschah, weiß ich aus den Erzählungen meiner Mutter. Nachts wurden wir häufig vom Fliegeralarm geweckt, sodass wir dann jedes Mal runter in den hauseigenen Keller mussten. Wir wohnten in einem 6-Familien-Haus, und im Keller war ein Raum, der mit einer Holzverstrebung und einigen Balken stabilisiert war. Wäre das Haus bombardiert worden, hätte es deswegen vielleicht eine Überlebenschance für die Menschen gegeben, die in dem Kellerraum Schutz suchten. 

In dem genannten Raum standen 3 Doppelstockbetten, in denen ich des Öfteren bei Angriffen gelegen hatte. Aus unserem Wohnhaus waren recht wenige Leute in dem Luftschutzbunker, denn unsere Hausgemeinschaft bestand überwiegend aus alleinstehenden Frauen: eine Familie mit 2 Kindern, meine Mutter mit mir sowie aus der obersten Etage ein älterer Herr mit seiner Ehefrau. Dieser Nachbar hatte fast das Rentenalter erreicht und war bei den Siemens Flugzeugwerken beschäftigt. Er war eher selten anwesend, es hing davon ab, welchen Schichtdienst er hatte. Jedenfalls haben wir uns bis 1943 regelmäßig – wenn Fliegeralarm war – in diesem Keller aufgehalten.  Sehr häufig war auch meine Großmutter zu Besuch da. 

Um den zahlreichen Bombenangriffen zu entgehen, ist meine Mutter mit mir mehrfach für eine längere Zeit besuchsmäßig zu meiner Großmutter nach Zeitz gezogen. Als mein Bruder 1943 zur Welt kam, wurde die Wohnung zu klein und wir sind gemeinsam mit meiner Großmutter, die meiner Mutter immer hilfreich zur Seite stand, wieder in unsere Wohnung nach Halle zurück gegangen. 

Kinderspiele

An Spielen in meiner frühesten Kindheit kann ich mich kaum erinnern. Auf Grund der Kriegssituation war es besser, in der Nähe der Mutter zu bleiben.

Nach dem Krieg hatten wir einen Abenteuerspielplatz in den Kellerräumen von 4 Häusern, die alle durch Öffnungen in den Kellerwänden miteinander verbunden waren. Dieses wurde damals aus Fluchtgründen gemacht. Auf dem Dachboden war es ähnlich. Wir haben dort als Kinder immer Verstecken oder Indianer gespielt und sind durch die Keller, Treppenhäuser und über die Dachböden getobt. Im Nachhinein muss ich sagen, für die Erwachsenen war das bestimmt keine Freude, wenn wir da mit Indianergeheul durch die Gegend gerannt sind.

Im Sommer ging es meistens zum Baden in ein 3 km entferntes großes Freibad. Meine Freunde und ich sind barfuß und in Turnhose, die Badehose drunter, Handtuch unter dem Arm, losmarschiert. Unterwegs schauten wir regelmäßig beim Bäcker rein und kauften uns für 10 oder 20 Pfennig eine Tüte voll Kuchenrändern von den Obstkuchen. Das reichte uns. So erlebten wir mehr oder weniger eine freudvolle Kindheit. Wir haben das Beste daraus gemacht, und auch die Eltern hatten sich bemüht, uns eine vernünftige Kindheit zukommen zu lassen.

Luftangriffe auf Halle

Halle wurde bis Ende 1943 kaum vom Krieg beansprucht. Wahrscheinlich funktionierte die Luftabwehr im Reich so gut, dass die Flugzeuge nicht so weit – die kamen ja von Flugplätzen aus England – ins Land reinkonnten. Die haben also vorwiegend  im Ruhrgebiet ihre Bomben abgeladen, sodass es in Halle meistens Fehlalarm gab, der bald wieder aufgehoben wurde und wir wieder in unsere Wohnung konnten. 

Als 1943 mein Bruder geboren wurde, gaben meine Mutter  und meine Großmutter es auf, sich weiterhin in dem Luftschutzraum im Haus aufzuhalten. Sie suchten stattdessen das Krankenhaus  ‚Bergmannstrost‘ ganz in unserer Nähe auf. Jedesmal wenn es Alarm gab, strömten aus den umliegenden Häusern die Leute dort hin. Das Krankenhaus hatte keinen eigenen Bunker, sondern nur ein riesengroßes rotes Kreuz auf dem Dach. Man verließ sich also auf die Genfer Konvention in der Hoffnung, dass keine Bomben aufs Krankenhaus abgeladen wurden. 

Die Verwaltung des Krankenhauses war übrigens gar nicht daran interessiert, dass viele Leute ins Haus strömten. Zudem war es auch nach der Genfer Konvention nicht statthaft, dass sich dort Zivilisten aufhielten. Aber bei jedem weiteren Alarm gab es großes Angstgeschrei von schutzsuchenden Menschen. Spätestens beim 2. Ertönen der Sirenen strömten alle Schutzsuchenden in das Gebäude, denn dort gab es Räume, in denen teilweise Betten standen. Dort hielten die Leute sich dann auf.  

Großangriff auf Halle

Im Frühjahr 1945 kam es  zu einem riesengroßen Angriff auf Halle. Das gesamte Zentrum wurde dem Erdboden gleich gemacht, es hat über 1200 Tote gegeben. Während dieses Angriffs habe ich die Zeit in den Räumen dieses Krankenhauses voller Angst zugebracht. Das Licht ging aus, die Leute schrieen, das ganze Haus vibrierte, es war schlimm. Ältere Leute knieten und beteten. Es war als Kind wirklich fürchterlich, was wir da durchmacht haben. Als der Alarm vorbei war und wir aus dem Krankenhaus herausströmten, schrieen die Erwachsenen alle: Hoffentlich steht unser Haus noch, ist unsere Wohnung noch da. Unsere Wohngegend hatte zum Glück nicht viel abbekommen, aber das ganze Zentrum von Halle lag in Trümmern, Schutt und Asche überall,  Verzweiflung machte sich breit. 

Im Zentrum von Halle und rings um den Bahnhof herum gab es auch die Gebäude der großen Universitätsklinik. Bis an die Klinik ran waren die Häuser wirklich alle dem Erdboden gleich gemacht worden und auch die Universitätsklinik war beschädigt. Die Scheiben waren alle kaputt, aber keine Bombe wurde gezielt auf das Universitätsklinikum abgeworfen. Der Angriff an Karsamstag mitten am Tag, circa um 16 Uhr, und es gab keine Luftabwehr. 

Die  Flieger flogen ziemlich tief, und  sie konnten sich jedes Haus aussuchen, welches sie bombardieren wollten. – Aus meiner heutigen Sicht war das wirklich ein Angriff auf die Zivilbevölkerung, um zu zeigen, was sie erwartet, wenn hier nicht Schluss ist. Es war regelrecht ein gezielter Angriff.

Halle an der Saale heute, 2020 // Foto privat

Eroberung Halles durch die Amerikaner

Im April 1945 standen die amerikanischen Bodentruppen vor Halle und hatten dem Bürgermeister der Stadt angedroht, wenn es kein bedingungsloses Ergeben von seiner Seite gäbe, würden sie die Stadt dem Erdboden gleichmachen. Es wurden von der US-Army jede Menge Panzergeschütze aufgefahren. Es hatten sich aber ein paar mutige Zivilisten und zwei Militärs gefunden, die in die entsprechenden Verhandlungen eingetreten waren, welche sich allerdings in die Länge zogen. Die Amerikaner hatten es jedoch eilig, sie wollten ihren Auftrag möglichst schnell zu Ende bringen. Da haben sie als Ausdruck eines letzten Warnschusses die Spitze des roten Turmes, der mitten auf dem Marktplatz in Halle steht, abgeschossen, und der ganz Turm, also das Wahrzeichen von Halle, ging in Flammen auf. Das war der letzte Warnschuss und danach hat man sich  geeinigt.

Ich weiß noch, dass meine Mutter und meine Großmutter Betttücher aus dem Fenster hängen ließen, und überall hingen in den Nachbarhäusern ebenfalls weiße Bettlaken als Zeichen der Übergabe. Die Bevölkerung war aufgefordert worden, sich in die Schutzräume zu begeben als Vorsichtsmaßnahme wegen eines Angriffs oder eines möglichen Angriffs. 

Wir saßen also wieder erneut unten in unserem Keller und warteten ab, was auf uns zukommen würde. Insgesamt  waren  wir ungefähr 6 Frauen, 3 Kinder und als einziger Mann der ältere Herr Seeburg, der im Flugzeugwerk arbeitete. Er und seine Frau hatten keine Kinder, und so nahmen sie mich ein bisschen als ihren Enkel an. Herr Seeburg war der einzige Mann weit und breit. Zwischen uns bestand ein guter Kontakt.  

Plötzlich hörten wie die Geräusche von Panzern und anderen Fahrzeugen, und dann stürmten Soldaten in unseren Keller. Ein schwarzer GI mit Gewehr schaute in unseren Kellerraum. Als Kind hatte ich das erste Mal so einen schwarzen Mann gesehen, und die Frauen waren alle erschrocken. Der fragte nur: „Nazi? Nazi?“, und suchte in allen Ecken. Junge Männer waren ja keine da, und damit hatte sich die Sache erledigt. Es war eine große Aufregung, aber mehr war dann nicht. Vereinzelt fielen ein paar Schüsse in der Stadt, denn es gab immer noch einige Verrückte, die das Blatt noch wenden wollten. Im Grunde blieb es aber ruhig. 

Alltag mit den US- Amerikanern

Das Problem war nur, unsere Straße bestand aus 4 Häusern, und gegenüber war ein großer Platz. Plötzlich fuhren laufend Fahrzeuge vor. Es waren meistens große LKWs mit Antennen auf dem Dach von irgendeiner Logistikeinheit. Von den 4 Häusern wurden die ersten zwei Gebäude von ihnen belegt. Unsere Wohnung war auch davon betroffen.

In den ersten Tagen durften wir uns noch tagsüber in unserer Wohnung aufhalten, aber abends mussten wir immer im Luftschutzkeller schlafen. Nach ein paar Tagen hatte man für alle ausquartierten Leute der beiden Häuser Unterkünfte gefunden. Wir  bezogen im Nachbarhaus mit einer weiteren Familie eine leerstehende Wohnung, in der sich noch eine Küche befand. Ich kann mich entsinnen, unsere Luftschutzbetten hatte uns jemand in die neue Unterkunft getragen. 

Die Amerikaner benahmen sich recht ordentlich. Für uns Kinder war das immer schön, sie haben öfter mal einen Kaugummi oder Schokolade zu uns rübergeworfen und haben Jux mit uns gemacht. Damals ist mir etwas aufgefallen, was intensiv in meiner Erinnerung haften geblieben ist. Jeden Morgen zog ein toller Duft von gebratenen Eiern über die ganze Straße hinweg. Aber da war noch ein anderer mir fremder Geruch, der mir erst später bekannt wurde, es war der Duft von Bohnenkaffee. Die ganze Straße roch nach Bohnenkaffee! Und heute ist es noch so, wenn ich Kaffeeduft rieche, werde ich immer noch an diese Zeiten erinnert. 

Die Amerikaner besetzten unser Haus und blieben bis zum Juli 1945. Meine Mutter und auch andere Frauen hatten immer abends beobachtet, ob die Damenbekanntschaften der Amerikaner Dinge aus den Wohnungen entwendeten. Das funktionierte wie eine Polizeieinheit. So wurde verhindert, dass das über den Krieg gerettete Eigentum nicht in fremde Hände geriet.

Ansonsten gab es keine besonderen Vorkommnisse. Nur an einen besonderen Tag kann ich mich erinnern: Da flogen aus unseren Fenstern die Kristallgläser auf die Straße. Das war der 8. Mai 1945, die Kapitulation! Die Amerikaner feierten und tranken kräftig einen über den Durst. 

Rückkehr des Vaters

In der Zeit zwischen dem Weggang der Amerikaner und des Kommens der Russen war mein Vater aus Belgien zurückgekommen. Er hatte sich mit zwei weiteren Kameraden von seiner Einheit abgeseilt. Der eine Kamerad war aus Aachen und der andere aus dem Raum Kassel.

Die beiden Kameraden hatten durch Verwandtschaft Verbindungen zu Bauern, die schickten jemanden zum nächsten Dorf. Der dort Aufgesuchte kannte wieder jemanden, und auch der kannte wieder jemanden usw., und so sind sie dann bis Kassel gekommen. In Kassel hatte mein Vater ein Fahrrad geschenkt bekommen, und so sehe ich ihn gedanklich noch heute, als er heimkam: auf dem Fahrrad mit einem großen Rucksack und einer großen leeren Tasche. 

Mein Vater fand 1945 natürlich keine Arbeit, und er fing dann bei einem Schrotthändler als LKW-Fahrer an. Er fuhr einen LKW mit Vollgummibereifung und Holzvergaser für diesen Unternehmer. Der Unternehmer war recht pfiffig: Er suchte in den Trümmern nach Metallträgern, schnitt die geraden Stücke raus und fuhr damit über die Dörfer und bot bei Bauern, die was bauen wollten, die Stahlträger gegen was Essbares als Tausch an. Natürlich gab er meinem Vater immer einen gewissen Anteil ab.

Wechsel der Besatzungsmacht 

Die Übergabe von Sachsen-Anhalt durch die Amerikaner an die Russen war lange vor Kriegsende vereinbart worden. Sie erfolgte ab Juli 1945. Man muss sich mal vorstellen, die Grenze zwischen der amerikanischen Besatzungszone und der russischen war eigentlich die Elbe. Die Amerikaner und die Russen hatten sich in Torgau an der Elbe getroffen, und alles, was östlich der Elbe lag, war russisch besetzt, und alles, was westlich der Elbe war, war amerikanisch. Dann kam natürlich die Umsetzung des Potsdamer Abkommens, und für West-Berlin wurde dann Thüringen, große Teile Sachsens und von Sachsen-Anhalt aufgegeben, und die Grenze war dann so verlagert, wie sie später Jahrzehnte bleiben sollte.

Als die Russen nach Halle kamen, war ich 6 Jahre alt. Ich habe die Bilder noch vor Augen. Die Russen kamen teils mit LKWs und Pferdewagen mit luftbereiften Rädern. Etliche Leute standen am Straßenrand und sahen den Neuankömmlingen kritisch entgegen. Die Soldaten machten einen völlig ausgehungerten, verwahrlosten und heruntergekommenen Eindruck. Die Uniformen der russischen Soldaten sahen gegenüber denen der Amerikaner, die immer chic und adrett in ihren Sommer- und Winteruniformen daher gekommen waren, zerrissen und schmutzig aus. Es war schon bedrückend, sie so zu sehen.

Die Russen waren nun da, und es gab einige Vorfälle, die den Leuten Angst machten. Außerdem kursierten Gerüchte, aber ich will das auch nicht weiter kommentieren. Mal war ein Fahrrad geklaut, mal passierten schreckliche Dinge, denn es wurde sich an Frauen vergangen. Aber wie gesagt, das bekam ich als Kind mehr oder weniger nur über Gespräche mit.  

Etwa 3 km entfernt von unserer Wohnung befand sich ein großer Friedhof. Dort fanden in regelmäßigen Abständen Beerdigungen von Russen statt. Egal, ob sie nun Kriegsverletzte oder schwer erkrankte Soldaten und deswegen verstorben waren, sie wurden alle in der Mitte eines LKWs in einem offenen Sarg aufgebahrt. Auf dem Brustkorb lag die Mütze, eine Kapelle schritt voran und spielte einen traurigen Marsch. So fuhr der Trauerzug durch die Straßen. – Ansonsten hatten wir zu der Zeit als Kinder kaum Kontakt zu den Russen. Auch die Bevölkerung war ein bisschen abgeneigt.

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