1944 – 1946

Wir wurden zweimal ausgebombt. Nach der letzten Evakuierung und „Heimkehr“ bekamen wir in Mülheim-Oberbroich eine Wohnung. Der uns zugleich zugewiesene Platz im Bunker war in nicht allzu großer Entfernung und daher gut im Bedarfsfall erreichbar. 

Weihnachten im Krieg 

An Heiligabend 1944 kam eine Gruppe des BDM (Bund Deutscher Mädel) in den Bunker, und die Mädchen sangen Weihnachts- oder besser gesagt Sonnenwend-Lieder, etwa ‚Hohe Nacht der Klaren Sterne’ und ‚Der Sunnwendmann’. Es kam auch so eine Art Nikolaus. Der verschenkte nichts, aber er vermöbelte einige Rangen, welche irgendeinen Fehler gemacht hatten. Ich sollte auch Hiebe bekommen; denn mein Fehler war, dass meine Eltern als ‚Rote‘ verschrieen waren. Angst hatte ich selbstverständlich. Ein SS-Mann, der Sohn von Nachbarn, in voller schwarzer Uniform mit dem Totenkopf an der Mütze, hatte Erbarmen mit mir, und er verjagte den ‚Heiligen Mann‘. Ich war dem ’schwarzen Mann‘ damals sehr dankbar. – Ein Kind in einem der KZs hatte sicher andere Empfindungen bei seinem Anblick. 

Dann sickerte die Nachricht durch, dass der Bunker am Flughafen einen Volltreffer erhalten hatte und viele Tote zu beklagen waren, darunter auch die BDM-Gruppe, zu welcher meine Schwester gehörte. Sie hatte aber mit ihren 16 Jahren Dienst an der Front und war deshalb nicht bei den Toten. Ihre Gemütsverfassung, als sie vom Tod all ihrer Kameradinnen erfuhr, kann man sich ja wohl vorstellen. 

Kriegsende

Ich war damals 8 Jahre alt, als die Amerikaner einmarschierten. Ich habe aber nie einen laufen gesehen, denn sie sind immer nur gefahren. Da war noch was ganz Lustiges passiert: Uns gegenüber standen große Fahrzeuge, LKWs. KITCHEN stand da drauf – und man muss wissen, wir waren ja Arbeiterkinder, waren schön dumm, Fremdsprachen gab es erst später, keiner konnte außer Holländisch und außer Deutsch und Mölmsch-Platt eine andere Sprache. Da sagt mein Vater: „Nun guck dir das mal an, die haben sogar fahrbare Gefängnisse.“

Unser Leben nach dem Krieg

 Zu Hause war die Verpflegung und die allgemeine Lage schlecht. Meine Eltern waren beide krank, meine Mutter hatte rheumatische Beschwerden, mein Vater das Herz kaputt, der konnte die 52 Stufen der Treppen zu unserer Wohnung nicht mehr rauf. Da blieb dann meine Schwester über, die war 9 Jahre älter als ich, sie musste sehen, dass sie Geld verdiente. Sie arbeitete recht bald in der Bücherei, als die Gewerkschaft anfing sich aufzubauen, und führte dort  die Kasse; nebenbei machte sie noch eine Ausbildung. Sie musste dafür sorgen, dass wir was zu essen kriegten. Wir hatten natürlich, da mein Vater so viel gearbeitet hatte, massenhaft Geld, doch es war wertlos. Bei der Eisenbahn, der Post, Straßenbahn, also bei allen offiziellen Stellen, da war das Geld noch was wert, ansonsten haben wir damit gespielt.

Wohnen nach dem Krieg

Wir wohnten damals an der Duisburger Straße  Nr. 81, das Haus steht heute noch. Nachdem wir an der Bergstraße Nr. 8 total ausgebombt waren, kriegten wir eine ganz normale Wohnung. Wie der alte Bau aussah, in dem ich geboren wurde? Keine Elektrizität, kein Wasser und keine Toiletten usw., das war ein Bau – wie soll ich sagen – aus den Anfängen der Kaiserzeit. Das war damals ein ganz normales Miethaus. Wir wohnten im Arbeiterviertel, die brauchten sich ja nicht waschen. Ja, so war das damals. 

Bis zu der Zeit, als die DM eingeführt wurde, haben wir mehrfach hungern müssen. Aber wir waren nicht alleine. Aus der ehemaligen Fabrik kamen die Kollegen manchmal und halfen. In der Fabrik gab es was zu essen, so einen Pott. Später kriegten wir auch in der Schule, in der Hauptpause, einen Pott Eintopf.

Nach dem Krieg bezogen wir für damalige Zeiten ein hochmodernes Gebäude, da gab es Wasser bis in die oberen Etagen, natürlich auch einen Abfluss, es gab eine Toilette, eine Badewanne sowie Gas und Elektrizität. Wir kamen uns vor wie im Himmel. Der Hauswart/Besitzer, das war ein Nazi mit 150 %. Dessen Tochter war mit meiner Schwester in einer Klasse. Als die gehört hatte, dass im Krieg unser Haus abgebrannt war, versprach sie, mit ihren Eltern zu reden. 

Ich bin bis heute noch im Zweifel, ob der Hausbesitzer uns die Wohnung zuwies, weil seine Tochter das so wollte – denn die Nazis waren ja nicht alle Verbrecher, es gab ja auch ordentliche Leute. Oder ob er das gemacht hatte, um uns zu helfen oder schon gedacht hat, wenn der Krieg verloren geht, dann haben wir die richtigen drin … ich weiß nicht.

Als ich die Lehre beendet hatte, versicherte ich meiner Mutter, jetzt finanziell mit anzupacken. Dann schafften wir erst mal Möbel an, aber es war nichts drin, nicht mal Teller, kein Essen, wir mussten alles beschaffen. Nach 2 ½ Jahren sagte ich zu meiner Mutter: „Jetzt bist du wieder auf dich gestellt, jetzt muss ich mein Geld für mich haben. Ich gebe dir Kostgeld.“ Ja, ich war großzügig dabei, mit dem Rest habe ich dann gelebt.

Die Roten Falken 

1946 wurden die Falken als Jugendorganisation wieder hier in Mülheim, die ja im Dritten Reich verboten waren bzw. sich selbst aufgelöst haben, zugelassen. Mein Vater schickte mich hin, weil er in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit diese Jugendgruppen in Mülheim bis zu deren Verbot in der Nazizeit geleitet hatte. Ich war damals 8 Jahre alt. Ich hatte damals aber keine Lust, ich wollte nicht. Er hatte gesagt: „Pass mal auf! Ich habe dich noch niemals kommandiert. Du gehst jetzt dahin, und wenn dir das nicht gefällt, kannst du wegbleiben. Aber du musst dir das auf jeden Fall ansehen.“ 

Ja, ich war da, und ich bin dann erst mit 20 Jahren wieder da ausgestiegen, weil ich das mit dem Alter nicht mehr so vertragen konnte. Da war wieder das Gute: Wir haben uns am Anfang einfach nur mittwochs morgens getroffen in einer Gegend,  später dann in einer Wirtschaft mit einem großen Saal. Eine ältere Frau spielte dort gut Klavier, da haben wir Volkstänze getanzt, und ich war ein guter Tänzer. Ich habe heute noch die Fußbodenschablonen, auf denen die Tanzschritte geübt wurden. Jedenfalls das war für mich die helle Seite. 

Schon ab 1946 und dann jedes Jahr stellten wir in Mülheim-Uhlenhorst auf  einer großen Wiese, die es jetzt nicht mehr gibt, unsere Zelte auf. Die Arbeiterwohlfahrt hatte dort ein Holzhaus, da gab es zu essen, und da haben wir uns oft getroffen. Mindestens einmal im Jahr gab es dort ein großes Zeltlager. 

Durch die Zeltlager-Kultur kamen wir dann in die verschiedensten Ecken der Bundesrepublik, angefangen hier in Hünxe. Neben dem Lagerplatz gab es einen Wasserlauf, dort konnten wir uns waschen. Wir waren auch in Jugendherbergen, dort konnten wir kochen. Wir hatten Begegnungen mit Leuten, die mehrere Sprachen beherrschten, darunter mein späterer Schwager. Er war  ein bisschen älter als ich und kam aus einer Familie, in der es schon über viele Generationen Lehrer und Ausbildende gab. Er hat  die Organisation geführt. Morgens um halb sieben wurden wir geweckt, dann musste das Zelt aufgeräumt werden, anschließend konnten wir uns waschen. Zum Rasieren war es noch nicht so weit. Um halb neun war das Essen fertig, dies kam in große Tröge, da wurde sich dann versammelt und ein Lied gesungen. Morgens stand Sport auf dem Tagesplan, oder es wurden Wanderungen unternommen, aber es gab natürlich auch Unterricht in verschiedenen Fächern. In den Zeltlagern selbst war es alles sehr schön. 

Später fuhren wir mal ins Sauerland, dann in die Eifel, und einmal sogar bis nach Bayern, in die Nähe von Neuschwanstein. Der bayrische König Ludwig hatte dort sein Geld verbraten. Das Schloss wurde damals noch von der deutschen Bundeswehr als Holzlager verwendet. Die Lager bestanden aus über 20 Dörfern mit etwa bis zu 20 Zelten. Alles war demokratisch organisiert, denn die Kinder wählten einen Oberbürgermeister. Wir waren bis zu 4000 Leuten, die aus ganz Europa kamen, wie z.B. aus Dänemark, Finnland, Italien, Frankreich, England und Holland. 

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