Alltag im Bombenkrieg

Rückfahrt ins Ruhrgebiet im Juni 1943

Wir waren am 23. April 1943 auf der Rückfahrt von Insterburg kommend nach Mülheim. Je näher wir dem Ruhrgebiet kamen, desto öfter sahen wir links und rechts der Bahnstrecke alles brennen. Meine Mutter bekam es mit der Angst zu tun, weil sie sich fragte, ob wohl unser Haus noch steht? Wir mussten dann vom Bahnhof Mülheim mit unseren Koffern nach Dümpten laufen, denn es gab keine Straßenbahn . Es ging an brennenden Häusern, Schutt und Asche vorbei. Bei einer kurzen Rast auf unseren Koffern hörte meine Mutter im Gespräch mit verängstigten Menschen, dass am Vortag, also in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943, der große Angriff auf Mülheim war.

Endlich in Oberdümpten am Schildberg angekommen sahen wir, dass unser Haus noch stand. Nur die Fensterscheiben waren zerstört und ringsumher sahen wir rauchende Ruinen. Dank unserer Nachbarn ist unser Haus nicht ausgeplündert worden. In der folgenden Nacht mussten wir – schon auf Grund des Bombenalarms – in den während unserer Abwesenheit eingerichteten Luftschutzkeller. Von nun an waren wir fast mehr im Luftschutzkeller als in der Wohnung, mal tagsüber, oft nachts. Auch von meinem Vater kamen beunruhigende Briefe von der Front. 

Mit diesem Ereignis setzt auch schwach meine eigene Erinnerung ein. Manchmal vermischen sich dabei schon noch meine eigenen Erinnerungen mit den Erzählungen meiner Mutter nach dem Krieg.

Bombenangriffe auf Mülheim

Frau Storks kann sich noch sehr genau an die Bombenangriffe erinnern

Bombenangriffe

Die Bombenangriffe  wurden immer heftiger, sodass wir bei Alarm aus Sicherheitsgründen in einen unterirdischen Stollen gehen mussten. Für uns Kinder war kaum noch Zeit  und Möglichkeit wegen der vielen Bombenalarme draußen zu spielen. Wenn wir es durften, sollten wir immer in der Nähe des Hauses bleiben. Außerdem wurden wir immer ermahnt, nichts aufzuheben, was wir nicht kannten. Durch die vielen Bombenabwürfe, Flak-Granatexplosionen und Phosphorbomben lagen viele gefährliche Sachen herum. 

Es war inzwischen Oktober 1943 geworden, und es gab keinen Tag mehr ohne Bombenalarm. An einem Wochentag hatte es die Zuteilung für Fleisch gegeben und meine Mutter hatte den fertigen Braten von außen auf eine Fensterbank gestellt, weil wir noch keinen Kühlschrank hatten. Diesmal gab es akuten Bombenalarm, d. h. ohne eine erste, zweite oder dritte Vorwarnung. Meine Mutter und ich nahmen unsere bereitstehenden Sachen zusammen und rannten los in den Stollen. Dort außer Atem angekommen fiel meiner Mutter der Braten ein. Was tun? Sie war hin- und hergerissen zwischen der Sorge um mich und dem Braten, der ja für einige Tage reichen musste. Während ich in der Obhut einer Nachbarin blieb, rannte meine Mutter nach Hause. Eine Brandbombe war vor unserem Haus eingeschlagen, und nur mit Mühe konnte sie ins Haus kommen. Sie holte den Braten und hastete trotz der Bombenabwürfen in den Stollen zurück. Mit kaputten Knien und nervlich völlig aufgelöst kam sie dort an. Sie hat mir später erzählt, dass es eine sehr schwere Entscheidung für sie war, aber wir hätten  sonst in den nächsten Tagen nichts zu essen gehabt, und ich hätte mich – wie so oft – vor Hunger in den Schlaf weinen müssen. 

Kohlenklau

Im Winter 1943/44 lag viel Schnee, und es war eisig kalt. Meine Mutter lag noch im Krankenhaus, und ich war bei meinen Großeltern. Wir brauchten Kohlen, aber woher nehmen? Die Nachbarin der Großeltern schellte manchmal abends an der Tür und hatte ihren Enkel dabei, der etwas älter war als ich. Dann zogen wir uns warm an und gingen mit ihnen in die Dunkelheit hinaus. Oma nahm eine Taschenlampe und einen größeren geflochtenen Korb mit. Wir gingen zu den nahe gelegenen Bahngleisen, wo viele Waggons abgestellt waren. Natürlich waren wir nicht alleine dort. Der Nachbarjunge und ich wurden in einen offenen Waggon gehoben, und wir haben nur mit unseren kleinen Händen so schnell wie möglich Kohlen in diesen Korb gelegt. Dann gingen wir wieder auf dem schnellsten Weg zurück nach Hause. Oma hat mich gewaschen, den Küchenofen noch mal richtig gestocht, und ich bekam noch ein Butterbrot und ging zu Bett.

So schön es bei Oma und Opa trotz der Bombenalarme auch war, ich war doch froh, als meine Mutter wieder nach Hause kam und wir wieder zusammen waren. Gott sei Dank war in unserer Abwesenheit mit unserem Haus auch nichts passiert.

Essen wurde knapp

Für uns alle wurde es auch hier schwerer, das tägliche Leben zu meistern. Es gab Lebensmittelkarten, und es gab täglich, manchmal auch nur wöchentlich, nach langem Anstellen in einer Schlange die notwendigen Zuteilungen. Ich freute mich jede Woche auf meine abgezählten Bonbons und Plätzchen. Die zugeteilten Rationen wurden mit der Zeit immer weniger. Eine besondere Erinnerung habe ich daran, dass ich hungrig war. Meine Mutter hatte zwar ein Stück Brot, in das einzelne Scheiben mit Kerben eingeritzt waren, aber ich bekam nur eine Scheibe zu essen, weil das Brot für einige Tage reichen musste. Vor dem Tod meines Vaters kam manchmal ein Päckchen von ihm von der Front mit Lebensmitteln, z.B. mit Linsen oder Erbsen und für mich eine Süßigkeit.

Wärme und Kleidung

In der kalten Jahreszeit wurden Holz und Kohle immer knapper. Unser Schlafzimmer war eisig kalt. Wir zogen Pullover, Jacken und andere wärmende Sachen über den Schlafanzug oder das Nachthemd.

Während der Zeit im Bunker trugen Männer, Frauen und wir Kinder in dieser schlechten Zeit kaum farblich abgestimmte oder passende Kleidung, denn viele Menschen haben ja durch die Bombardierungen oftmals alles verloren oder wurden auch ausgeplündert. Die wenigen Geschäfte hatten auch keine Waren, und Geld war ebenfalls nicht vorhanden. Die Devise war wie  immer: „Aus alt mach neu“. 

Volksempfänger

Bis jetzt hatte unser Haus alle Bombenangriffe überstanden, aber durch die vielen Erderschütterungen hatte unsere Wohnküche in den Ecken tiefe Risse bekommen, genauso wie bei unseren Nachbarn. Wir hatten ein Radio – genannt Volksempfänger – den zu der Zeit nicht jeder hatte. Auf einer bestimmten Frequenz war täglich ein Feindsender zu hören. Wenn es soweit war, schaltete meine Mutter das Radio ein, und durch eine Ritze in der Wand konnten die Nachbarn mithören. Der Ton durfte nicht allzu laut gestellt werden, denn es war ja strengstens verboten, diesen Sender zu hören. 

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