Meine Eindrücke vor und nach der Wiedervereinigung 

                          

Als ich 1961 im Fernsehen sah, wie systematisch, zuerst um den östlichen Teil von Berlin, dann durch das ganze Land, eine Mauer oder Grenzeinrichtungen gezogen wurden, habe ich dieses Geschehen mit Fassungslosigkeit und Ungläubigkeit verfolgt. Es war eine ungeheuerliche und menschenverachtende Handlung und Anmaßung Menschen hinter eine meterhohe Mauer und Stacheldraht zu verbannen; ihnen dadurch ihre Freiheit zu nehmen. Für mich ein nicht nachvollziehbar verwerfliches Verhalten. Die Hoffnung, dass bald wieder Normalität herrschen würde, erwies sich als Trugschluss.

In meiner Familie gab es keinerlei familiäre oder freundschaftliche Verbindung zu Verwandten oder Bewohnern der ehemaligen DDR. Wir hörten zwar einige Geschichten von Bekannten, die ihre Verwandten in der DDR besuchten und Kontakte pflegten oder von ihnen besucht wurden, aber das war es auch schon. Dies änderte sich, als ich 1965 meinen Mann kennenlernte.

Mein Schwiegervater wurde in Meißen geboren. Seine Eltern, sowie einige Verwandte, lebten auch nach dem Mauerbau weiterhin dort. Die Eltern meines Schwiegervaters wohnten auf dem Grundstück der Meißener Albrechts Burg im ehemaligen Wohnhaus von Ludwig Richter, dem bekanntesten sächsischen Maler der Romantik, mit seinen Motiven der Sächsischen Schweiz, auch Elbsandstein-Gebirge genannt. 

So bekam ich als junge Frau mit, wie immer wieder Pakete, mit für uns selbstverständlichen Dingen des Alltags, von meinen Schwiegereltern gepackt und „nach Drüben“- wie es immer hieß – geschickt wurden. 

Zu Weihnachten wurde von den Großeltern meines Mannes stets eine selbst gebackene Original Dresdner Stolle an meine Schwiegereltern geschickt. „Drüben“, in der DDR, hat das Organisieren und Improvisieren wunderbar funktioniert. So kannten die Eltern meines Schwiegervaters eine Bäckerei, in welcher sie, und ihre Nachbarn, in der Adventszeit abends den Brotbackofen zum Backen der Weihnachtsstollen nutzen durften. Die Zutaten, die es dort nicht gab, wie Rosinen, Mandeln, Butter, und Zitronat, wurden allerdings zuvor von meinen Schwiegereltern in die DDR geschickt.

Als Weihnachtsgeschenke gab es von den Angehörigen der ehemaligen DDR für meine Schwiegereltern wundschöne und originelle Erzgebirge-Holzschnitzereien wie z. B. Weihnachtskrippen und Baumschmuck aus dem Erzgebirge, so z.B. die bekannte niedliche Engelskapelle und die Pyramiden, welche durch das Aufsteigen der Wärme von brennenden Kerzen, angetrieben wurden.

Ich bedaure es sehr, die Familie meines Mannes aus Ostdeutschland nicht persönlich kennen gelernt zu haben, denn, wie mir von meinem Mann erzählt wurde, hatte ich mit seinem Großvater das Meißener Porzellan als gemeinsame Leidenschaft, denn er war Modelleur in der Meißener Porzellan Manufaktur. Bei Besuchen hätten wir beide uns bestimmt über dieses Thema ausführlich austauschen können.

Gerne wären mein Mann und ich nach Meißen gefahren, um die familiären Kontakte auch persönlich pflegen zu können. Was aber nicht möglich war, da mein Schwiegervater bei der Bundeswehr in Koblenz beschäftigt und durch seinen Beruf bedingt militärischer Geheimnisträger war, somit waren ihm Reisen in die DDR verboten.

Aus diesem Grund hat mein Schwiegervater seine Eltern bis zu ihrem Tod nicht mehr wieder sehen können. Selbst nach ihrem Ableben war ihm die Teilnahme an den Beerdigungen seiner Eltern verwehrt. Der MAD (Militärischer Abschirmdienst) hatte es untersagt.

Dies galt auch für uns, die engsten Familienmitglieder. 

Erwähnt werden muss, dass im Vorfeld, lange bevor die Eltern meines Schwiegervaters verstorben waren, telefonische Todesnachrichten von der STASI inszeniert wurden, die sich stets nach Rückversicherung als reine Fakes entpuppten. So wollte man meinen Schwiegervater in den Osten locken, um an Informationen zu kommen. 

Die dabei angewandten Methoden waren meinem Schwiegervater bekannt und er somit gewarnt. Allerdings war der letzte Anruf eines DDR-Notars nicht erfreulich. Mein Schwiegervater sollte seinen, ihm zustehenden Erbteil, nach dem Tod seiner Mutter antreten, was, wie oben erwähnt, nicht möglich war und somit ausgeschlagen werden musste.

Das Telefonieren innerhalb der Familie gestaltete sich als sehr schwierig. Jedes Gespräch musste angemeldet werden. Da die Großeltern meines Mannes kein Telefon besaßen, hätte es über eine bekannte Familie gehen müssen, aber schon dies war ein Risiko, denn es war nicht sicher,  ob nicht jemand mithörte, der es nicht sollte. 

Selbst beim regelmäßigen Schreiben von Briefen blieb bei meinen Schwiegereltern immer eine gewisse Skepsis, ob das Schreiben ungeöffnet und unkontrolliert seinen Adressaten erreichte. Pakete wurden häufig in der DDR kontrolliert. Die Großeltern meines Mannes konnten es z. B. an den durchstochenen Butterverpackungen erkennen.

Dadurch war für uns alle die Situation entstanden, dass wir uns nicht wie es in Familien üblich ist, zum Geburtstag, Ostern, Weihnachten oder anderen Feierlichkeiten, sehen konnten. Tragisch war, dass die Großeltern das Erwachsenwerden und die berufliche Entwicklung ihrer Enkel nicht – wie selbstverständlich üblich – miterleben konnten.

Erst im hohen Pensionsalter von über 80zig Jahren hat mein Schwiegervater nach Jahrzehnten seinen Geburtsort Meißen aufgesucht, um noch einmal das Haus wieder zu sehen, in dem er geboren wurde und aufgewachsen war.

Jahre später – im Juni 1972- besuchten mein Mann und ich eine befreundete Familie in Sack, ein kleiner Ort nahe Alfeld an der Leine, in dem mein Mann seine ersten Lebensjahre mit seinen Eltern verbracht hat. 

Wir unternahmen einen Tagesausflug in den Harz in Richtung Torfhaus und Hahnenklee. 

Dort haben wir damals erstmalig – zwischen diesen beiden Orten gelegen – vor einem hohen und zugleich endlos wirkenden Zaun, welcher alle paar Meter mit Selbstschussanlagen bestückt war, gestanden. Diese Selbstschussanlagen sind ganz perfide Waffen, gemacht, um Menschen, die in die Freiheit fliehen wollten, zu verletzen oder gar zu töten. Es sind kleine Splittergranaten, die ihre verheerende Ladung durch einen Streutrichter in Körperhöhe abfeuern. Ausgelöst durch Stolperfallen. 

Es trat bei mir sofort ein erheblich beklemmendes Gefühl auf, als ich sah, wie wir aus den Wachtürmen von den Soldaten der NVA (Nationalen Volks Armee) mit Ferngläsern beobachtet wurden. In regelmäßigen Abständen patrouillierten zwei junge Soldaten, begleitet von zwei Hunden, mit russischen Maschinenpistolen auf dem Rücken, hinter dem Zaun. Wir grüßten freundlich, aber sie zeigten keinerlei Reaktion.

Ein Stein, in der Form eines Obelisk, etwa zwei Meter hoch, lackiert mit rot-schwarz-goldenen Streifen und einer Metallplatte mit der Inschrift, „Achtung hier beginnt die Deutsche Demokratische Republik“, trennte uns nur wenige Meter bis zu dem Todesstreifen. Da lag sie nun vor uns, die „berüchtigte Ostzone“. Den Brocken, der höchste Berg im Harz, mit seinen Horchstationen, konnten wir nur aus der Ferne sehen, der Zugang war gesperrt.

Die gesamte Situation war für uns so surreal, und nach geraumer Zeit verließen wir diesen bedrückenden Ort.

Nachdem die Wiedervereinigung zwischen Ost-und Westdeutschland vollzogen war, kam bei mir die Neugierde auf, mich im östlichen Teil Deutschlands umzusehen. Es kursierten viele Geschichten darüber, in welch maroden Zuständen es in vielen Städten und Dörfern aussähe. 

Allerdings gab es zu diesem Zeitpunkt für unsere Familie keine Chance mehr, uns anzunähern, es gab keine lebenden Angehörigen mehr in Meißen. 

Im Frühjahr 1992 verbrachte ich einige Tage zur Fortbildung in Berlin. Zur gleichen Zeit war ein mit mir und meinem Mann befreundetes Ehepaar vor Ort, welches sich einige Immobilien im Ostteil von Berlin ansehen wollte. 

Ich nutzte die Gelegenheit, und wir verabredeten uns, dies gemeinsam zu tun.

Zunächst hatte ich nur den westlichen Teil von Berlin erkundet und eine Stadt erlebt, die mich faszinierte und die scheinbar niemals zur Ruhe kam. Das Leben pulsierte dort Tag und Nacht. 

Als meine Freunde einige Objekte von einem Immobilienhändler genannt bekommen hatten, fuhr ich mit ihnen in den Ostteil von Berlin.

Unser Ziel war ein Straßenzug mit einer Anzahl von Häusern, meist 5-stöckig, welche sich in einem stark renovierungsbedürftigen Zustand befanden. Ich fühlte mich zeitlich in die 1950er Jahre zurückversetzt. Trotzdem konnte man erahnen, dass diese Bauten, die mit vielen Ornamenten an ihren Fassaden versehen waren, bessere Zeiten erlebt hatten.

Bei dem ersten Haus, welches wir uns ansahen, war das äußere Erscheinungsbild des Gebäudes in einem katastrophalen Zustand. Der Putz bröckelte an unzähligen Stellen oder er war auf größeren Flächen schon ganz verschwunden.

Von den Fensterrahmen, wo das Holz schon zersplitterte, war der letzte Rest Farbe wohl schon vor langer Zeit abgeblättert. Die Haustüre war in einem ebenso desolaten Zustand und das Haus für jeden zugänglich.

Dann standen wir in einem Treppenhaus, und es verschlug uns die Sprache.  An den Wänden hingen letzte Reste von Tapeten als Fetzen von den Wänden. Der Treppenaufgang war mit undefinierbaren Symbolen verschmiert. Die Treppe selbst war auf allen Stufen durchgetreten, einige wiesen schon größere durchlöcherte Stellen auf und stellten eine deutliche Gefahr dar, und das Treppengeländer wackelte gewaltig und bot keinerlei Halt.

Die Beleuchtung funktionierte nur im unteren Flurbereich und war eine kleine Funzel, die kaum mehr Licht bot, als eine Kerze. Die Lichtschalter hatten noch das Format aus den Jahren von 1930. Elektrische Leitungen und Wasserrohre lagen auf den mittlerweile zum Teil putzlosen Wänden, auch einige zerfranste Kabel hingen von der Decke herab. Hinzu kamen Graffiti Schmierereien in allen möglichen Ausführungen. Einige Flurfenster waren zerschlagen, und die Splitter lagen noch auf den Fensterbänken. So ging es weiter bis in das oberste Stockwerk.

Und in diesem maroden Haus lebten noch Menschen. Ich war fassungslos.

Durch den Flur, dessen Steinfußboden mit rotbrauner Farbe gestrichen war, fehlten an vielen Stellen große Stücke und bildeten enorme Stolperfallen. Über diesen Flur kam man auf den Innenhof zu einem Gebäudekomplex, wo vier Häuser zu einem Karree miteinander verbunden waren. Somit war der Innenhof ein Zugang zu den drei anderen Immobilien.  

Aber der Innenhof war in den letzten Jahren wohl so etwas wie ein Platz für Sperrmüll geworden, denn an vielen Stellen stapelten sich alle möglichen ausrangierten Gegenstände wie kaputtes Mobiliar, fleckige Teppiche, offen gerissene Kartons mit Utensilien des Haushalts und so weiter.

In allen 4 Immobilien – die wir uns angesehen haben – bot sich uns ein ähnliches Bild. Mir taten die Menschen leid, und  ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie diesen Zustand über Jahre ausgehalten haben.

Der Tag war einfach nur ernüchternd für mich. Wenn ich mich an das Straßenbild erinnere, dann sah ich nur eine Tristesse in grauen Farben. 

Natürlich erhielten wir hier im Westen über die Medien immer Informationen, dass der Aufbau dank des Solis (Solidaritätszuschlag) in den neuen Bundesländern greifen und wie aufwendig die Bauvorhaben umgesetzt würden. 

Freunde von uns, die sich schon ein Bild vom Wandel der Örtlichkeiten gemacht hatten, gerieten ins Schwärmen, was sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Osten bautechnisch alles getan hätte. Ab 1999 unternahmen mein Mann und ich etliche Reisen in den Harz, sodass wir uns einige Orte im ehemaligen Osten angesehen haben. Vorrangig besuchten wir Wernigerode, da es uns dort besonders gut gefiel, aber auch Quedlinburg und Stolberg. 

Stolberg ist so malerisch und verwunschen, dass nahezu alle Märchenfilme in diesem Städtchen gedreht wurden. Ebenso diente die Moritzburg, ein Lustschloss von August dem Starken, nahe Meißen in Sachsen, als Filmkulisse. Man denke nur an den Film „drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, den die meisten von Ihnen sicherlich kennen. Es wird dort regelmäßig als Musical aufgeführt.

In Wernigerode waren die Instandsetzung und Renovierung maroder Gebäude sowie der Ausbau der Infrastruktur  in vollem Gange. Einige Aussenfassaden waren zwar noch hinter Plastikfolien versteckt, denn die Sanierungsarbeiten liefen auf Hochtouren. 

In die schon fertigen Immobilien hatte sich die Geschäftswelt niedergelassen, und die Auslagen waren mit allem, was das Herz begehrte, bestückt. Es gab einladende Cafés, Eisdielen und Restaurants, die man zum Teil noch über Schotterstraßen erreichen konnte. Aber man konnte erahnen, dass die Orte wie Quedlinburg, Wernigerode und Stolberg zu wahren Schmuckstücken werden würden. Von Jahr zu Jahr wurde der Fortschritt für uns sichtbarer. Es war eine Augenweide, wenn man durch die Orte flanierte und die pittoreske Architektur und die vielen Fachwerkhäuser auf sich wirken ließ.

Die Autobahnen zu den  jeweiligen Städtchen waren mit einem Asphalt versehen, sodass man meinte, man fährt über Seidenpapier. So glatt und leise stellte er sich dar.

Was meinen Mann und mich im Osten ebenfalls sehr beeindruckt hat, waren Flora und Fauna in den von uns besuchten Gebieten. Wir sahen eine Vielfältigkeit von Tierarten, die uns Städter nur staunen ließ. Imposant war die große Menge von unterschiedlichen Greifvögeln sowie die hohe Anzahl der Störche und der Salamander. Wir waren begeistert, enorm viele Vogelarten vorzufinden. Wunderschöne Blumenwiesen und sattes Grün in allen vorstellbaren Farbtönen erfreute das Auge, soweit man schauen konnte. Die Wälder mit ihrer großen Fülle und Auswahl der unterschiedlichsten Pilzsorten war eine Freude jeden Pilzsuchers. Da hielt uns nichts mehr, denn mein Mann und ich waren leidenschaftliche Pilzsammler.

2008 war ich erneut wegen eines Fortbildung Seminars in Berlin, dieses Mal bezog ich ein Zimmer in einem Hotel nahe der Straße „ Unter den Linden“.

Alle Gebäude waren in einem Top-Zustand, in ihrer Architektur erhalten und die sich in der Parterre befindlichen Modelabel, sowie andere Geschäfte waren allesamt Läden der gehobenen Kategorie. Menschenmassen strömten durch die Straßen, und die Wegbeschreibung war erstklassig. Viele Neubauten sind hinzugekommen, die sich wunderbar in das Stadtbild einfügten. Stundenlang konnte ich von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten zu laufen. 

Im Laufe der letzten Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung von Ost und West habe ich viele Menschen aus der ehemaligen DDR – insbesondere beruflich – kennen gelernt. Treffen wir aufeinander, egal wo, gibt es keinerlei Hemmschwellen, wir respektieren und schätzen uns, treffen uns bei  Gesprächen oder Diskussionen auf Augenhöhe, gehen freundlich und fair miteinander um und was sehr wichtig ist, wir können mit einander Lachen. 

Jutta Loose
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