Reichspogromnacht

Am 10. November 1938 fuhr ich wie jeden Morgen mit der Straßenbahn vom Wiescher Weg in die Stadt. Am Viktoriaplatz musste ich aussteigen und den restlichen Weg über die Kaiserstraße hoch zur Schule in der Adolfstraße zu Fuß zurücklegen. Doch an diesem Tag war alles anders. Aus der Synagoge am Viktoriaplatz stiegen dichte Rauchwolken in den Himmel. Neugierig näherte ich mich mit den anderen Schulkameraden dem imposanten Gebäude, aus dem hohe Flammen schlugen. Davor stand eine  Menschenmenge staunend vor sich hin murmelnd, viele diskutierten und mutmaßten. Andere wiederum - es waren SA-Leute - grölten: "Juden raus! Nieder mit dem Judenpack!"

 

Vor dem Inferno standen zahlreiche Feuerwehren mit schwerem Gerät und, was uns Jungen natürlich sofort auffiel, sie bekämpften nicht die Flammen, sondern richteten die Wasserstrahlen gezielt auf die angrenzende Sparkasse. Das war kein normaler Brand, denn man gewährte den Flammen freien Lauf. Wir konnten zunächst nicht begreifen, was hier vorging, und sahen mit Entsetzen dem rätselhafte Treiben zu.

Erst später erfuhren wir von Passanten, dass „heute die Abrechnung des deutschen Volkes mit den Juden stattfände, die Schuld am verloren 1. Weltkrieg  trügen, nur aus Verbrechern und faulem Gesindel bestünden und bisher nur Unheil über Deutschland  gebracht  hätten. Vor einigen Tagen sei in Paris sogar einen hoher deutscher Beamten von ihnen ermordet worden.“

Verstehen konnten wir das nicht, auch wenn in Zeitungen, aber auch in der Hitlerjugend und Schule alle Juden als minderwertig gebrandmarkt wurden. Ich zweifelte nach wie vor an der Richtigkeit dieser Einschätzung , denn auf die Juden, die ich durch meine Eltern kennengelernt hatte, traf dies Bewertung auf keinen Fall zu.

Wir vergaßen derweil, dass wir zur Schule mussten, und folgten den tumultartigen Geräuschen, die aus einer Nebenstraße kamen. Dort auf dem Löhberg spielten sich entsetzliche Szenen ab. Aus dem Hause der Metzgerei Korthäuer, waren SA Leute dabei, sämtliches Mobiliar aus der Wohnung im 2. oder 3. Stock durch die Fenster rücksichtslos auf die Straße zu schmeißen. Als Krönung brachten man ein zerhacktes Klavier unter  großem Kraftaufwand auf gleichem Wege zu Fall, haarscharf an den im Garten Versammelten vorbei, das beim Aufschlagen noch schreckliche disharmonische Töne erklingen ließ. Eine Frau, wahrscheinlich die Wohnungsbesitzerin, wurde von den braunen Uniformierten an den Haaren wieder in das Haus gezerrt, als sie dies schreiend verlassen wollte.

In der ganzen Stadt waren viele Schaufensterscheiben zerbrochen, Geschäfte geplündert und mit Parolen wie:  "Kauft nicht bei Juden!“ beschmiert. Bei all diesen Aktionen wagte niemand der Zuschauenden einzugreifen. Für mich war das alles unverständlich, warum die Feuerwehr dieses wunderschöne Gebäude – ich wusste nur, dass das eine Kirche war – nicht löschte und alle nur zuguckten und niemand etwas tat.

Als die Jungen mit viel Verspätung die Schule erreichten, war die Klasse immer noch nicht vollzählig. Der Englischunterricht fiel aus. Der Lehrer wurde mit Fragen überschüttet. Er versuchte die Gewalttaten zu rechtfertigen, was ihm jedoch nicht ganz gelang. Die Frage mir, ob es denn auch gute Juden gäbe, brachte ihn sichtlich in Verlegenheit. Auf die Antwort, die er darauf bekommen hatte, kann er sich nicht mehr genau besinnen. Jedenfalls hat es sich bestimmt nur um eine der üblichen Phrasen gehandelt.  

An diesem Tag wurde ich nachdenklich. Ich konnte es nicht fassen, welcher Pein diese Menschen ausgesetzt wurden. Äußerlich stellte ich mit meinem kindlichen Urteilsvermögen, das durchs Elternhaus christlich geprägt war,  keine Unterschiede zu den anderen Menschen fest – das entsprach nicht dem Bild von Juden, das meine Lehrer und die Kameraden in der DJ von diesen entwarfen.

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