Auswirkungen des Nazi-Regimes

Der Bruder meiner Mutter wurde Richtschütze in der Marineartillerie. Zu Hause amüsierte man sich, denn man muss wissen, dass der Onkel eine Brille mit sehr dicken Gläsern trug: Er konnte nicht einmal die Mündung der Geschütze erkennen. Später, als er uns in seinem einzigen Urlaub besuchte, erzählte er, dass er Handräder zu drehen und Skalen zu beobachten hatte. In diesem Urlaub hatte der Onkel sich mit meinem Vater – sie verstanden sich sehr gut – viel zu erzählen.

Verfolgung der Sozialdemokraten 

Meine Eltern waren Sozialdemokraten, wurden von den Nazis verfolgt und waren dauernd in Angst um ihr Leben. Mein Vater war deswegen schon seit 1935 sogenannter kriegsdienstverpflichter Zivilist. Er wurde zum Panzerbau eingesetzt (entweder auf dem Panzerbaugelände in Essen-Borbeck oder auch in Duisburg in der Nähe des Rheins). Die Arbeit war sehr mit Strapazen verbunden, da der Arbeitstag im Panzerbau 16 bis 18 Stunden betrug. Der Leiter dort, ein strammer Nazi, machte viel großes Geschrei, aber er hatte keinerlei Ahnung. So leitete eigentlich mein Vater dort die Abteilung. 

Gewöhnlich sahen wir unseren Vater wochenlang nicht. Der berühmte Panzergeneral Guderian kam öfter mal ins Werk, und dann wurden vermehrt Panzer gebaut, ohne Pause. Vater bekam im Werk zu essen, und man hatte Pritschen zum Schlafen für das Produktionspersonal aufgestellt. Die schöne Seite war, dass mein Vater Kollegen hatte, die uns schon mal was zu essen brachten. Ich hatte damals beispielsweise keine richtigen Schuhe, aber Holzklumpen nach Holländer Bauart. Da hatten sie welche zu verteilen.

Drei Tage, bevor die Amerikaner in Mülheim einrollten, war mein Vater zu Hause geblieben, er konnte gesundheitlich einfach nicht mehr. Die Folge war, dass wir auch nach Ende des Krieges – bis ich meine Lehre beendet hatte – materiell ganz mies dastanden. 

Ahnung von KZs und NS-Gräuel

In meinem Elternhaus wusste man seit 1943, dass in den KZs etwas Furchtbares geschehen musste. Die KZs selbst waren bekannt, aber was darin geschah, hatte man nicht gewusst. Ein Onkel von mir, der sich freiwillig bei der Kriegsmarine in Brest in der Bretagne gemeldet hatte, um Torpedos zu begleiten, sagte nach einem Einsatz mal, dass er das nie mehr mache, denn das sei sehr gefährlich. Nebenbei erzählte er noch, dass er unterwegs an Eisenbahnen vorbeigefahren sei. Dort war der Gestank nach Toiletten und anderen Gerüchen so gross, dass da furchtbare Dinge passiert sein mussten. 

Mich ärgert es heute noch, wenn ich im Fernsehen sehe, wie angebliche Experten behaupten, die Leute haben alles von diesen schlimmen Verbrechen gewusst, denn es stimmte nicht. Meine Eltern waren Sozialdemokraten, wir waren sehr feindlich gegenüber den Nazis, aber nicht gegen Deutschland. Die hätten immer von solchen Gräueltaten gewusst, wenn man etwas hätte wissen können, denn die hatten auch Kontakt untereinander.

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