Resümee: Horst Heckmann

Mein 90-jähriges Leben war reich an Abwechslungen. Da gab es schöne Ereignisse, an die man sich gerne und oft erinnert; und da gab es solche, die man vergessen möchte, aber nicht kann.

Ich kam zur Welt, als noch die Weimarer Republik existierte, welche die Folgen des Ersten Weltkrieges zu tragen hatte. Ihr wurde im Laufe ihres Bestehens unterstellt, zu schwach zu sein, um die Deutschen aus der damals so genannten „Schmach und Hoffnungslosigkeit“ herauszuführen und ihnen wieder Lebensperspektiven zu verschaffen. Diese Zeit nutzte eine kleine Gruppe Rechtsradikaler mit Adolf Hitler als Führer, um an die Macht zu gelangen. Dabei bedienten sie sich vielversprechender Parolen, wie „Du musst an Deutschlands Zukunft glauben, an deines Volkes auferstehen“ usw. Tatsächlich stellten sich innerhalb kurzer Zeit im Hinblick auf die Arbeitslosigkeit und die Lebensqualität spürbare Erfolge ein.

Ein weiterer Slogan hieß: „Wir kämpfen für Arbeit und Brot!“ Dabei vergaß man nicht, die angeblichen Schuldigen für den verlorenen Ersten Weltkrieg zu finden und alle vermeintlich bestehenden und später auftretenden Unzulänglichkeiten dem jüdischen Volk anzulasten und es systematisch als „Kriegstreiber, Blutsaugerbande, Unglücksbringer usw.“ zu brandmarken.

Die Deutsche erlagen der geschickten NS-Propaganda und unterstützten ihre neue Weltanschauung. Sie wurden wie so vieles gleichgeschaltet und zu einer Volksgemeinschaft geschweißt, die den Führer Adolf Hitler als Halbgott anerkannten und immer weniger fähig waren, seine dämonischen Pläne zu durchschauen, geschweige sich zu widersetzen.

Diese Entwicklung erlebte ich von Kindheit an bis zum Ende des „Tausendjährigen Reiches“. Denn für die Jugend wurde ein ganz besonderes Programm aufgelegt. Dabei übernahm man bewährte Formen der Jugendbetreuung, wie sie vorher in christlichen und gewerkschaftlichen Bereichen schon einige Zeit praktiziert wurden. Auch wir als Heranwachsende glaubten, alle diese Dinge seien Errungenschaften der „Neuen Bewegung“, und konnten es nicht abwarten, der Hitlerjugend anzugehören, einer von ihnen zu sein.

Wir betrachteten es nicht als ungewöhnlich, Tugenden wie Disziplin, Mut, Härte, Kameradschaft, Gehorsam etc. anzustreben, die bisher in der deutschen – vor allem preußischen – Geschichte erforderlich waren sowie bei zahlreichen Berufen wie Bergmann, Seemann, Bergsteiger, Feuerwehrmann zum Berufscodex gehörten. Deswegen fanden wir als Kinder und Jugendliche den Dienst in der Hitlerjugend bzw. dem Jungvolk mehr als spannend. Wer hätte damals nicht gerne als Junge mit dem Luftgewehr hantiert, im Gelände Krieg gespielt, Sport getrieben, zackige Lieder beim Gleichschritt gesungen und die begehrte Uniform getragen, die im Laufe der Zeit so etwas wie eine zweite Haut wurde!

Die Schule, die Hitlerjugend, die Zeitungen, das Radio, die Kinos – mehr Informationsquellen kannte man damals noch nicht – taten das Ihrige hinzu, nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges uns davon zu überzeugen, dass wir einen „gerechten“ Krieg führten, gegen wen auch immer – und wenn es die ganze Welt sein sollte. Auch ich hatte bis zum Kriegsende fest an einen Sieg der deutschen Wehrmacht geglaubt, ja, auch obwohl mein Elternhaus die ganze Zeit über eine völlig andere Meinung vertrat.

Erst als ich mit 16 Jahren erlebte, wie sich der Frontenring um Deutschland immer enger zog, die Wunderwaffe immer noch auf sich warten ließ, tauchten auch in mir Zweifel auf. Nachdem „unser geliebter Führer“ mich mit 17 Jahren als Panzergrenadier unzureichend ausgebildet an die Front schickte, vergrößerte sich das Misstrauen und der Glaube an das Reich, welches 1000 Jahre bestehen sollte, bröckelte zusehends ab. Statt der uns eingebleuten Parole „Vorwärts für den Endsieg!“ festigte sich in den Köpfen der Gefährten und auch in meinem der Grundsatz: „Vorwärts Kameraden, wir zieh’n uns zurück!“ – Von da an wurden alle Kräfte fürs Überleben eingesetzt mit der Hoffnung, auf keinen Fall in die Hände der Roten Armee zu geraten, was Gott sei Dank auf riskanten und abenteuerlichen Wegen auch gelang.

In amerikanischer, später englischer Gesellschaft war ich trotz vieler Entbehrungen überglücklich, dass Krieg und Blutvergießen ein Ende hatten und der Ausruf passte: „Hurra, wir leben noch!“ Von nun an machten sich in mir, als ich in der Gefangenschaft Zeit zum Nachdenken hatte, andere Sorgen breit: Haben auch die Eltern alles gut überstanden? Wo befinden sie sich? Wie sieht es in Mülheim aus?

Gleichzeitig wähnte ich mich mit schwer erklärbaren Gefühlen in einem tiefen schwarzen Loch. Ich konnte es nicht fassen, dass meine Ideale sich in Rauch und Asche aufgelöst und alles, was mir wert und heilig gewesen war, aus Lug und Trug bestanden hatte. Das NS-System hatte meine kindliche und jugendliche Gutgläubigkeit missbraucht und – was noch schlimmer war – Millionen von Menschen brutal dem Krieg geopfert.

Wie werden wir diesmal damit fertig, die Alleinschuld zu tragen?

Meine innere Zerrissenheit wurde noch dadurch gesteigert, als von den Alliierten behauptet wurde, dass das deutsche Volk nicht besiegt, sondern die übrige Welt vom Nationalsozialismus befreit worden war. Anfangs ging diese These nicht so recht in die Köpfe der deutschen Bevölkerung; dagegen sprachen einfach die vielen durch Bomben zerstörten Städte, darunter auch meine Heimatstadt Mülheim an der Ruhr, sowie die Rache der Rotarmisten an der deutschen Bevölkerung im Osten.

Nur langsam kam ich selbst zu der Erkenntnis, dass eine vom Volk gewählte Regierung auch d e s s e n Willen ausführen muss und nicht umgekehrt, kurz gesagt: Es ist das Mehrheitsprinzip, nach dem oftmals Entscheidungen getroffen werden: Bei Abstimmungen und Wahlen setzt sich der Wille der Mehrheit gegenüber dem Willen der Minderheit durch.

Derweil reifte in mir – inzwischen 18 Jahre alt geworden – der Entschluss, beim Aufklären und Umdenken der deutschen Jugend mitzuwirken. Eine Plattform dafür glaubte ich in der neugegründeten Deutschen Demokratischen Republik zu finden, die ich bei der Zusammenführung meiner Familie kennenlernte. Hier wurden inzwischen alle Nazis im Gegensatz zu Westdeutschland entmachtet und durch demokratische Kräfte ersetzt. Ich fasste die Gelegenheit beim Schopfe und sah im Lehrerberuf die beste Möglichkeit, bei Kindern und der heranwachsenden Jugend den Alltag mit demokratischen Lebensformen zu füllen und schon früh zu selbstständigem Denken anzuleiten.

Allerdings wurde ich mit der Zeit auch von dem neuen SED-Staat maßlos enttäusch, der anfangs Demokratie predigte und sich später als Diktatur entwickelte. Auch hier erlebte ich Denunziantentum, Hetze, Willkür, Redeverbote, Linientreue, Kadavergehorsam usw., usw., alles mir bekannte Dinge, denen ich den Kampf angesagt hatte. Da ich meinem Vorsatz treu blieb, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen, mich für ein demokratisches Deutschland einzusetzen, geriet ich als gebürtiger Westdeutscher immer mehr ins Visier der Stasi, die ein anderes Demokratieverständnis als ich an den Tag legte. Ich flüchtete in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem sog. Arbeiter- und Bauernstaat in die Bundesrepublik Deutschland.

Wenn ich nun aus meinem 90 Jahre alten Leben Schlüsse ziehen und Erkenntnisse benennen will, so fallen mir dazu ganz simple, aber m. E. nach erstrebenswerte Dinge ein:

  • Unterstütze alle Möglichkeiten, wenn sie dem Frieden dienen.
  • Sei wachsam, und lasse dich nicht für dumm verkaufen.
  • Wehre dich gegen Einschränkungen im gerechten Handeln, Denken und Reden.
  • Habe Mut, gegen den Strom zu schwimmen.
  • Höre dir gute Vorschläge an, gleichwohl aus welcher Richtung sie kommen. Diskutiere darüber; und wenn sie unserer Bundesrepublik nützlich sind, unterstütze ihre Verwirklichung.

Horst Heckmann, 17.04.2018

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