Nahrung vor, während und nach dem Krieg

Bevor man essen oder trinken kann, muss man erst mal einkaufen. Der Einkauf damals – in meiner Kinder- und Jugendzeit – unterschied sich wesentlich vom heutigen Einkauf. Einkaufszentren mit Selbstbedienung und Scannerkassen kannte man zur damaliger Zeit nicht. Es gab nur die sogenannten Tante-Emma-Läden. In jedem Stadtteil gab es Dutzende dieser Läden, und alle hatten ihre Stammkundschaft. Das war auch wichtig, denn viele Familien hatten wenig Geld; und so wurde im Tante-Emma-Laden angeschrieben, und am Samstag, wenn Vater seinen Lohn bekam, bezahlt. Außerdem war das Einkaufen unproblematischer als heute, aus dem einfachen Grund, weil niemand erst das Inhaltsverzeichnis lesen musste, wie viel Fett oder Zucker oder welche Chemikalien das jeweilige Produkt enthielt; die Produkte waren „Bio“. Auch ein Ablaufdatum gab es nicht: Man kaufte nur so viel ein, wie man gerade benötigte.

Zum Einkauf brachte man verschiedene Behältnisse mit. Für Speiseöl zum Beispiel brachte man eine Flasche mit, in der wurde schon mal ein viertel oder halber Liter aus einem viereckigem Tank mit einem Hahn vorne, abgefüllt. Butter kaufte man nicht als 250-Gramm-Packung, sondern die gewünschte Menge wurde von einem großen Block Butter abgeschnitten, das konnten 125 Gramm oder noch weniger sein. Auch Bohnenkaffee kaufte man nur in kleinen Mengen, und der wurde meist nur sonntags aufgebrüht. Unter der Woche trank man Kathreiner-Kaffee: ein Kaffeeersatz aus gerösteter Gerste. Ich entsinne mich, dass meine Mutter mir mal 10 Pfennig gab, um Sauerkraut zu kaufen. Das befand sich nicht in Dosen, sondern in einem größeren Fass. Für diese 10 Pfennig bekam ich aber ein Kilo Sauerkraut.

Ich persönlich hatte ein gutes Verhältnis zu den Besitzern unseres Tante-Emma-Ladens, und ich hegte den Wunsch schon als 9-jähriger Junge, Kaufmann zu werden. Ich durfte, wenn neue Ware gekommen war, helfen. Man stellte mir eine Waage hin, und ich musste die Tüten in den Tütenhalter stecken und Mehl oder Zucker in 1 oder ½ Pfund Portionen abwiegen. Unter der Theke befanden sich große Holzbehälter, in denen dann Mehl, Zucker oder Hülsenfrüchte lagerten, die nach Bedarf portionsweise entnommen wurden.

Frau Ney, die Inhaberin, bediente selbst und hatte noch eine junge Verkäuferin als Angestellte.  Alle beide mussten gut rechnen können, denn alles, was der Kunde kaufte, schrieb man auf einen Zettel, und am Ende wurde zusammengezählt. Eine Registrierkasse gab es dort noch nicht. Deswegen war es wichtig, in der Schule gut aufzupassen und Kopfrechen zu lernen.

Einige wenige Lebensmittel gab es auch im Tante Emma Laden nicht. Der Milchhändler z.B. fuhr jeden Morgen mit seinem Pferdegespann durch seinen Stadtteil. Der hatte verschiedene Messbecher z.B.  1 Liter, ½ Liter oder sogar ¼ Liter. Die Leute gingen zum Wagen und kauften die Milch, die sie am Tage verbrauchten. Es kam trotzdem im Sommer öfter vor, dass die Milch sauer oder dick wurde und nicht mehr zu gebrauchen war. Haltbare Milch, wie es heute üblich ist, kannte man damals auch noch nicht.

Gemüse und Fisch wurden auf die gleiche Weise durch mobile Händler verkauft oder man kaufte sie auf dem Wochenmarkt. Kartoffeln wurden im Herbst eingekellert. Werbung für ihre Ware machten die Händler selbst durch markige Sprüche, die sie lauthals von sich gaben. Ich entsinne mich an einen Spruch unseres damaligen Fischhändlers mit folgendem Text: Täglich Fisch auf den Tisch, immer frisch für wenig Geld von Sonnefeld. Sonnefeld hieß er zufällig.

Kohlen brachte der Kohlenhändler säckeweise durch den Keller. Zentralheizungen, die mit Öl oder Kohle betrieben wurden, gab es in normalen Haushalten nicht. Aus Millionen Kaminen auf den Dächern rauchte es still und leise vor sich hin, und niemand kümmerte sich um Klimaschutz. Bevorratungen für den Winter wurden hauptsächlich durch das sogenannte „Einwecken“ getätigt. Der Name Einwecken entwickelte sich aus dem Namen des Herstellers der Einmachgläser, ein gewisser Herr Weck. Viele Bewohner der Vorstädte hatten einen Garten hinter ihrem Haus und versorgten sich selbst mit Gemüse, Kartoffeln, Obst. Die einzige Möglichkeit, diese Dinge haltbar zu machen war: Man weckte sie halt ein. Wirsing und Kohlköpfe aus dem Garten wurden mit dem sogenannten Kappeshobel bearbeitet und als Sauerkraut in großen Steingutbehältern für den Winter haltbar gemacht. Auch Sauerkirschen konnten in diesen Steingutbehältern über längere Zeit haltbar gemacht werden.

Zu Hause gab es kaum ein gemeinsames Mittagessen, denn meine beiden Schwestern, und später auch ich, hatten unterschiedliche Schulzeiten, und mein Vater kam sowieso erst spät von der Arbeit. Nur sonntags war es möglich, gemeinsam ein Mittagessen einzunehmen. Fleisch gab es meist nur sonntags, in der Woche meistens Eintöpfe, was auch damals von der NS-Regierung propagiert wurde: Jeder Volksgenosse sollte einmal in der Woche Eintopf essen.

Sonntags stand meine Mutter mit einer vor ihrem Sonntagskleid gebundenen weißen Schürze schon früh am Morgen am Kohleherd und kochte Suppe, Kartoffeln, Gemüse und bereitete den obligatorischen Sonntagsbraten zu. Vater ging sonntags zu seinem Kaninchenzuchtverein in die jeweilige Stammkneipe und kam dann erst etwas verspätet nach Hause und hatte keinen Hunger mehr. Warum wohl?

Für Süßigkeiten fehlte uns das Geld, und ich habe sie auch nicht vermisst. Um satt zu werden, hat es immer gereicht. Es kam in den Schulferien vor, dass ich mich mit meinen Schulfreunden morgens zum Spielen verabredete, in der Mittagszeit kurz nach Hause lief und ich meine Mutter mit den Worten: ‚Mutter, schmeiß ma ‚en Butter!‘ überraschte. Und sie machte mir ein Butterbrot, wickelte es in Zeitungspapier und warf es aus dem Fenster. Ich fing es auf und schon war ich wieder weg. Kein Mittagessen.

Eine Bevorratung von Lebensmitteln kannten wir zur damaligen Zeit noch nicht, denn wir konnten uns keinen Kühlschrank leisten. Unseren ersten „Kühlschrank“ bekamen wir erst 1936. Der aber wurde nicht mit Elektrizität betrieben, nein, ein sogenannter Eismann brachte einmal in der Woche eine Stange Eis. Dieses Eis wurde zerkleinert und in einen Behälter gefüllt. Jeden Abend musste meine Mutter das Wasser des geschmolzenen Eises entsorgen.

Mit dem Beginn des Krieges 1939 wurden dann alle Lebensmittel, Bekleidung und sonstigen Gebrauchsgegenstände bewirtschaftet durch Ausgabe von Lebensmittelkarten. Diese gab es in vielen Ausführungen wie z.B. Brotkarten, Fettkarten, Kartoffelkarten, Fleischkarten, Raucherkarten und vieles mehr. Für Textilien brauchte man Bezugsscheine,  die man erst beantragen musste. Außerdem gab es noch Zusatzkarten für verschiedene Berufe wie Schwerarbeiter und Schwerstarbeiter, z.B. im Bergbau oder in der  Stahlindustrie. Es handelte sich hierbei um zusätzlichen Bezug von Fleisch und Brot und anderen sogenannten Nährmittel, um die Arbeitskraft der Arbeiter zu erhalten.

Mit der Dauer des Krieges wurde die Versorgung immer problematischer. Es konnte vorkommen, dass man sich morgens früh um 4 Uhr beim Bäcker anstellte, um das Brot zu bekommen, was einem laut Brotkarte zustand. Irgendwann war das Mehl alle, der Bäcker hatte somit nichts mehr zum Backen, und viele Leute bekamen kein Brot mehr.

Für etwas mehr als drei Jahre befand ich mich in einem KLV-Lager in Böhmen und Mähren, heute Tschechische Republik. Wir mussten dort nicht hungern, aber die Verpflegung war doch ziemlich einseitig. Wir lebten dort mit dem Slogan: „Stammgericht in Raby: Kapusta und Brambory!“ Übersetzt heißt das: “Stammgericht in Raab: Wirsing und Kartoffeln!“ Doch für die Essenszeiten herrschte ein strenges Regiment. Die Essenszeiten wurden pünktlich eingehalten, man marschierte in den Ess-Saal und stellte sich vor seinen angestammten Platz. Statt eines Gebets sagte einer einen Spruch auf, der jedes Mal mit dem Ausspruch endete: „Es ess  ein jeder, was er kann – alle man ran!“ Sprechen während der Mahlzeiten war verboten. Wurde einer beim Sprechen erwischt, so musste er sich hinter den Stuhl stellen und das Essen im Stehen einnehmen. So streng waren die Bräuche im KLV-Lager.

Doch im April 1945 mussten wir vor der vorrückenden russischen Armee flüchten. Ab da lernten wir zu hungern. Wir bettelten und stahlen unterwegs alles, was genießbar war. Das Wort stehlen war tabu, es hieß „organisieren“. Von Anfang Mai 1945 bis Anfang Oktober hatten wir bei einem Bauern in der Oberpfalz Unterschlupf gefunden – zwei Jungs, mein Freund und ich. An eine Rückkehr nach Mülheim war zu dieser Zeit nicht zu denken. Ich half dort in der Landwirtschaft, so gut wie man mit 13 Jahren helfen kann. Ich hatte ein Bett und ausreichend zu essen.

Einmal im Monat wurde Brot gebacken. Hinter dem Wohnhaus stand ein kleines Backhäuschen, das wurde reichlich mit Holz und Reisig gefüttert und dieses angezündet. War die richtige Temperatur erreicht, wurde die Asche entfernt und etwa 10 bis 12 große runde Brotlaibe hineingeschoben. Das Brot hielt sich anschließend 4 Wochen frisch ohne zu schimmeln. War das ein Geheimrezept?

Zu den Mahlzeiten versammelte sich die ganze Familie um den Tisch. Über dem Tisch in einer Ecke befand sich der Herrgottswinkel – die Bäuerin sprach ein Gebet. Morgens löffelte man aus einer mitten auf dem Tisch stehenden Schüssel Milch und aß Brot dazu, mittags allerdings gab es schon für jeden einen Teller. Zu jener Zeit waren alle Bauern verpflichtet – je nach Größe ihres Anwesens – Milch und Butter abzuliefern. Die Milch wurde nur als Magermilch abgeliefert, da vorher mit der Zentrifuge der Rahm von der Milch getrennt wurde, um aus dem Rahm Butter zu machen. Es war für mich eine ungeliebte Tätigkeit, täglich die Zentrifuge zu drehen und einmal in der Woche eine Stunde lang das Butterfass. Es ist für mich heute noch ein Rätsel, wie die Bäuerin es schaffte, aus 5 kg Butter 10 kg zu machen und abzuliefern. Allerdings hatte diese Butter nicht die Farbe der Butter im allgemeinen, nämlich goldgelb, sondern diese Butter war fast weiß.

Im November 1946 kam ich nach einer 7-monatigen Odyssee wieder nach Hause. Dort war die Versorgung mit Lebensmitteln noch katastrophaler. Überleben konnte man hauptsächlich durch Tauschgeschäfte auf dem sogenannten Schwarzmarkt. Manch einer tauschte sein letztes Hemd für ein Stück Brot. Meine Mutter fuhr mit ihrer Schwester jede Woche ins Paderborner Land. Sie arbeiteten dort 3 bis 4 Tage auf einem Bauernhof.  Als Lohn bekamen sie Lebensmittel in Form von Kartoffeln, Gemüse oder Brot. Sie benötigten jedes Mal eine Bescheinigung des Bürgermeisters des Ortes, dass diese Lebensmittel keine Hamsterware, sondern Lohn für ihre geleistete Arbeit war.

Ich besuchte von November 1945 bis April 1946 noch die achte Klasse der Schule am Fünter Weg, damals noch Wilhelmschule genannt. Dort bekamen wir täglich die sogenannte Quäkerspeisung. Es handelte sich hierbei um eine undefinierbare braune, süßlich schmeckende Suppe. Uns Schülern hat sie jedenfalls geschmeckt.

An einem Tag Anfang Oktober 1945 kam der Bauer Kocks – den Hof gibt es heute noch – zu uns in die Schule und bat beim Rektor um Hilfskräfte zum Kartoffellesen. Die komplette Klasse war natürlich sofort bereit – dann haben wir als Lohn für diese Arbeit jeden Tag 10 kg Kartoffeln bekommen. Es waren aber immerhin 6 bis 7 Stunden Arbeit. Gut, wir freuten uns jedenfalls damals sehr, in 3 Tagen 30 kg Kartoffeln mit nach Hause zu nehmen.

Am 01. April 1946 begann ich meine Lehre als Maschinenschlosser auf der Schachtanlage Rosenblumendelle in Mülheim-Heißen. Ich hatte Glück, gerade auf einem Bergwerk eine Lehrstelle gefunden zu haben. Abgesehen von einem Pausenbutterbrot aus Maismehl, das meine Mutter mir morgens mitgab, auf dem sowieso keine Butter war, und das ich auf dem Weg zur Arbeit schon aufgegessen hatte, bekamen wir nach der Markenkontrolle an einem anderen Schalter ein dickes mit Wurst belegtes Butterbrot als Zusatznahrung für alle im Bergbau Beschäftigten. Außerdem gab es mittags in der Kantine ein warmes Mittagessen.

Gelegentlich wurden im Bergbau Care-Pakete ausgegeben. Der Inhalt dieser Pakete war damals Gold wert: Biskuits, Schokolade, Kaugummi und noch andere Sachen. Die Krönung aber waren mehrere Schachteln mit amerikanischen Zigaretten in dem Paket, pro Päckchen  nur drei  Zigaretten. Die aber, wenn man nicht selbst rauchte, waren die besten Tauschartikel. Man bedenke, wenn man sie verkaufen wollte, so kostete eine Zigarette 7 Reichsmark und war in fünf Minuten in Rauch aufgegangen. Eine Begebenheit hierzu aus dieser Zeit: Ich benötigte unbedingt neue Sohlen unter meinen Schuhen. Ich ging also zu unserem Schuhmacher und bat ihn, mir neue Sohlen zu besorgen. Er sah mich nur mitleidig an und sagte: “Ich könnte dir ja Pappe unter deine Schuhe kleben, was anderes habe ich nicht.“ Ich zog zwei meiner Zigaretten aus der Hemdtasche, und siehe da, ich bekam ohne zu zögern neue Gummisohlen, die allerdings aus alten Transportbändern hergestellt waren. Bei der Abholung meiner Schuhe vergaß er sogar seinen Lohn dafür einzufordern.

Es folgte noch der besonders harte Winter 1946-47 bei dem sogar die Ruhr zugefroren war. 1948 kam die Währungsreform. An einem Sonntag im Juni bekam jeder Bürger gegen Abgabe von vierzig Reichsmark vierzig Deutsche Mark (DM). Kurioserweise waren am Samstag vor der Währungsreform alle Schaufenster der Geschäfte gähnend leer. Aber am Montag staunte man nicht schlecht: Alle Schaufenster waren mit Sachen ausgestellt, von denen man jahrelang nur geträumt hatte. Wo kamen diese Sachen so plötzlich her?

Lebensmittelkarten gab es allerdings noch bis Mitte 1950, obwohl da kein Mangel mehr herrschte.

Horst Rübenkamp  

Januar 2016
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6 Gedanken zu „Nahrung vor, während und nach dem Krieg“

  1. Sehr guter Bericht. Ich bin Baujahr 1966 und bin auf dem Land in einen kleinen Ort aufgewachsen, da war es zum Teil auch noch wie in Ihrem Bericht,
    Tante- Emma Laden und so.
    Grüsse

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  2. Guten Tag!
    Auch ich bin im Bereich Altenpflege tätig. Für mich sind diese alten Menschen, die doch so viel schon erlebt und überlebt haben, wahre „Geschichtsbücher“! Wir können so dankbar sein, dass einige doch bereit sind, diesen Schatz an Erinnerung, Wissen, Erfahrung und Erlebnissen mit uns zu teilen. Ich wünschte, es würden mehr junge Menschen auch mal hinlauschen,… sie würden sich wundern, wie schnell so ein Gespräch, die Sichtweise und Meinung überdenken lässt.
    Danke

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  3. Ich arbeite in einem Seniorenheim als Betreuungskraft. Und suche immer schöne Erzählungen und Tatsachenberichte aus der Jugendzeit der Senioren. So kommen schöne Gespräche in Gang. Viele erinnern sich an Begebenheiten ihres Lebens. Und dieser Bericht ist so schön geschrieben. Danke dafür. Ich hoffe ich darf ihn verwenden um ihn meinen Senioren vorzulesen.
    Liebe Grüße Petra Ferrante

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  4. Ich danke vielmals für diesen Bericht. Es war wie eine kleine Zeitreise. Der Bericht hatte mich komplett in den Bann gezogen, so dass ich für einen Moment alles um mich herum vergaß. Ich kann nicht genug von solchen Erzählungen bekommen.
    Herzlichen Dank für dieses tolle Erlebnis.

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    • Guten Morgen, danke für Ihren Kommentar. Tragen Sie sich doch in unseren Newsletter ein, dann bekommen Sie die neuesten Berichte immer sofort per E-Mail.

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