Flucht

Beginnende Vertreibung

Dann kam die große Zeit der Vertreibungen. Wie gesagt, wir waren Selbstversorger und meine Mutter war immer sehr vorausschauend. So hat sie beizeiten Getreide gesät und  Kartoffeln gepflanzt.  Einwände von anderen Leuten hat sie damit begründet, dass es gut sei, auch im Herbst etwas zu essen zu haben.  Im September 1945 kam eine polnische 5-köpfige Familie und nahm unseren Hof in Besitz, Eltern mit 3 fast erwachsenen Kindern. Sie waren selber von Ostpolen vertrieben und bekamen einen Bauernhof zugewiesen.

Wir mussten unsere Zimmer verlassen und in das Zimmer meiner Großmutter ziehen. Die haben alles genommen, was so war. Praktisch waren wir damit recht- und mittellos und lebten bei denen auf unserem Hof. Von diesem Zeitpunkt an gehörte uns wirklich nichts mehr. 

Außerdem hatten wir noch ein Kind bei uns, dessen Mutter an Typhus gestorben war, den Klaus. Seinerzeit sind sie aus Solingen als Ausgebombte zu uns gekommen. Wir wohnten  zusammen also in einem Zimmer ohne Kochmöglichkeit, aber die Polenfrau hat immer für uns mit gekocht. Dafür halfen auch meine Eltern bei der Arbeit. Es wurden auch viele Gerichte erfunden. Das Essen war knapp, aber es reichte noch. Im Stall standen zwei Kühe, und Hühner gab es auch. Dazu Kartoffeln, die wir noch im Frühjahr angebaut hatten. Das  Getreide wurde geerntet und gemahlen. Davon haben wir dann Brot gebacken und uns ernährt von den Sachen, die auf dem Land und im Garten wuchsen. Im Winter heizten wir mit Torf. 

Der neue Besitzer war von Beruf Schuster, der sollte jetzt die Landwirtschaft betreiben, hatte aber davon keine Ahnung. Er konnte noch nicht einmal ein Pferd anspannen usw. Mein Vater hat ihm vieles gezeigt und ihn ein wenig angelernt. Für das Wohnen halfen meine Eltern bei der Arbeit. Unsere Polen waren sehr gutmütige Leute, also wir passten  auch vom Wesen sehr gut zusammen. Es waren ganz gute Leute, und sie haben immer gesagt, wir sollten nachts nicht weglaufen, das wäre zu gefährlich. Wenn wir weggingen, dann sollten wir ihnen Bescheid geben, sie würden uns dann Essen mitgeben. 

Ruthilde Anders erzählt über ihre Flucht aus Pommern

Die Situation wurde für uns immer schwieriger, die Deutschen in der Umgebung verschwanden so nach und nach, und das Leben war unbefriedigend. Und als der Frühling kam, wurde der Wunsch immer stärker, in den Westen zu gehen. Wir erfuhren, dass im Dorf ein zweijähriges Kind lebte. Die Mutter war mit den anderen Kindern vor der Front geflohen und hatte die zweijährige Bärbel bei ihrer Schwester gelassen, weil sie krank war. Der Mann dieser Schwester war Pole und versprach, wer das Kind mitnimmt, den würde er zur Grenze nach Stettin bringen. Meine Mutter war bereit dazu und fragte noch Verwandte und Nachbarn, ob sie mitkommen würden. So waren wir ca. 30 Personen, die sich mit zwei Wagen mit Gepäck auf die Reise zum Bahnhof nach Treptow machten.

Flucht in den Westen

Von der großen Politik wussten wir da ja gar nichts, wie Deutschland aufgeteilt werden sollte. Wir sind dann im Juli 1946 von Polen weg. Meine Mutter ergriff die Initiative und besorgte einen Wagen. Wir waren etwa 20 Personen, die sich da auf den Weg machten. Wir fuhren zum nächsten Bahnhof mit unseren Beutelchen; da war nur so viel drin, wie man tragen konnte. Wir nahmen nichts mit, was unnötig war; darauf hatte meine Mutter geachtet. In Kopfkissenbezüge kam unten eine Kartoffel rein, und dann wurden die anderen Handtücher auseinander geschnitten, und das waren dann die Riemen von dem Rucksack. Vom Bettzeug wurde nur das Inlett mitgenommen, das hätten wir wieder irgendwo füllen können. 

Am Bahnhof angekommen erfuhren wir, dass kein Zug ging. Also gingen wir zurück und übernachteten in der Scheune. Zeitig am Morgen ging es zum Bahnhof. Wir hatten eine Fahrkarte gekauft, hatten unser Gepäck, und viele Menschen drängten sich da in die Abteile am Bahnhof. Als der Zug losfuhr, sprangen die beiden Polen, die den Wagen gelenkt hatten, aus dem Zug raus, und wir waren alleine. Jetzt waren wir auf uns gestellt, ohne Sprachkenntnisse und an jedem Halt kamen Kontrolleure und verlangten Geld oder sonst etwas. Wir mussten immer wieder Nachschub geben, und dann wurde uns angedroht, wenn das nicht geht, dann werfen die uns aus dem Zug. Also, das war schon eine sehr schlimme Fahrt. Abends kamen wir in Stettin an. Über eine Notbrücke ging es zum Bahnhof. Dort mussten wir unter Bewachung bleiben, um am Morgen ins Lager zu gehen. 

Das Lager bei Stettin war ein Vorlager, also ein Sammelpunkt für alle, die jetzt aus Polen kamen und in den Westen wollten. Man konnte ja nicht willkürlich über die Grenze gehen. Meine Mutter hatte auch schon eine Sportkarre gefunden. Auf die konnten wir etwas Gepäck drauflegen; auch die Bärbel kam obendrauf. Im Lager wurden wir entlaust und registriert. 

Wir mussten alle unsere Sachen auf dem Tisch ausbreiten, und alles wurde durchgefühlt und durchgeguckt, ob da etwas Brauchbares drin gewesen wäre. Die verlangten immer wieder was. Und was nicht freiwillig gegeben wurde, das nahmen sie sich selber. Eine Nachbarin, die auch mit uns auf diesem Transport war, die hatte ihre Goldmark – hatte sie noch von früher – die hatte sie ins Brot eingebacken, aber die konnten sie dann ja nicht rausholen, dann hätten die gedacht, die haben noch mehr versteckt. Meine Mutter hatte noch Geld im Korsett, die kam auch nicht da dran, um noch was zu zahlen. Also, die Leute waren schon erfinderisch.

Ruthilde Anders beschreibt auf einer Lesung die Umstände ihrer Flucht in den Westen

Eine Woche blieben wir dort. Wir Kinder stromerten draußen rum und brachten auch manchmal was zu essen mit. Es war ja im Sommer, und da war das Obst auch schon reif, und da sind wir auch mal durch die Gärten gegangen und haben da ein bisschen Obst geklaut. 

In unserem Quartier war es so eng, wir lagen wie die Heringe nebeneinander und zwischen einander. Als Kochgelegenheit wurden draußen Steine aufeinander gesetzt, und dann wurde da ein Feuerchen gemacht. Da wurde ein Süppchen gekocht. Und heute wird noch gelacht über eine Begebenheit. Mein Bruder, damals 5 Jahre alt, wollte unbedingt das Feuer machen: Ich weiß, womit man Feuer machen können: mit Stroh! Aber wir haben keins. Das verfolgt ihn noch heute noch bis heute, dass wir kein Stroh hatten. 

Wir waren froh, als es dann endlich weiterging. Nach einer Woche wurden wir wieder in verschiedene Gruppen aufgeteilt und neue Transporte  zusammengestellt. Wir wurden in Viehwagen oder Güterwagen verfrachtet, die in die britische Zone fuhren. Das war wieder ein langer Marsch zum Bahnhof hin. Nun ging es in einer kleinen Bahn weiter durch Mecklenburg hoch in den Norden von Schleswig-Holstein. Dort war ein großes Auffanglager in Pöppendorf bei Lübeck; das war das größte von der britischen Militärregierung errichtete Flüchtlingsdurchgangslager. Auch hier wurden wir wieder registriert und entlaust. Man muss sich das wie so eine Korkenpumpe vorstellen: Da wurde das Läusepulver oben reingesteckt und dann gedrückt. Wir waren total verstaubt bei der Entlausung. Das war ganz fürchterlich. Heute lache ich darüber, aber uns war damals nicht nach Lachen zumute. 

Wir lagen wieder so in Baracken, und es war ja Juli, es war ja sehr heiß. Wenn man draußen war, war es unerträglich, und in diesen Baracken war auch eine ganz schlecht Luft. Aber Bärbel war so krank, ganz schlimm. Die hatte einen Durchfall, die wäre fast gestorben. Und die Leute, die mit uns in diesem Wagon waren, sagten zu uns: Schmeißt das Kind raus, das stinkt. Das sind schlimme Sachen, die man hört und mitmachen muss. Als wir nach ein paar Tagen in Lübeck ankamen, wurde unsere Bärbel von den Rote-Kreuz-Schwestern ins Krankenhaus gebracht. Dort kriegte sie Milchpulver, das konnte man mit Wasser auflösen.

Dort im Lager Pöppendorf konnten wir uns so richtig sattessen, denn es gab eine Großküche. Es gab Gemüsesuppe, die uns dann bald nicht mehr schmeckte, weil es jeden Tag dasselbe war. Aber wir wussten ja noch nicht, wie es auch schlechter sein kann; man hat dann so gemeutert. 

Bald wurden wir wieder zu einem Transport zusammengestellt. Diesmal fuhren wir nicht in Viehwaggons, sondern schon in Personenwagen. Diese Hauptzüge mit den Russenwagons konnten ja nicht auf allen kleinen Strecken fahren wegen der Spurbreite. Deswegen mussten wir in die kleinen Bahnen umsteigen, und dann ging es weiter in Richtung Norden. Die Angst war überall zu spüren. Da hieß es, wer nicht vermittelt werden kann, der geht ins Lager nach Kappeln. Da ist ein großes Lager, und da wollten wir doch nicht hin. Eine Gruppe fuhr in der Kleinbahn nach Kappeln. Immer, wenn der Zug an einem Bahnhof hielt, kamen Leute aus dem Dorf und suchten sich Familien aus:. „Den oder die nehmen wir auf.“ Weil wir eine große Familie waren, wollte uns keiner haben.

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