Allein in Mülheim
Er machte sich jetzt zunehmend um die Eltern große Sorgen. Von seiner Mutter, die sich evakuiert in Thüringen und nunmehr im Machtbereich der russischen Besatzung befand, und seinem Vater, der als Soldat irgendwo in der Welt herumschwirrte, fehlten seit langem jegliche Lebenszeichen.
Entlassung des Vaters
Und dann geschah das, was man fast als ein Wunder bezeichnen könnte: Völlig überraschend, allerdings ausgemergelt und zerlumpt, tauchte sein Vater Juni/Juli 1945 aus einem Gefangenenlager auf.
Die Freude war groß. Sie hatten sich immerhin schon fast zwei Jahre nicht mehr gesehen. Gemeinsam, so dachten sie, würden sie nun die auf sie zukommenden Schwierigkeiten irgendwie in den Griff bekommen.
Das war aber nicht ganz der Fall, denn in der Wohnung lebten außer ihnen noch weitere sechs Personen.
Um im Bergbau zu arbeiten, waren sie konditionell zu schwach, die auf Karten zugeteilten Lebensmitteln reichten nur wenige Tage, statt für den ganzen Monat. So konnte es nicht weitergehen.
Aufbruch nach Thüringen
Durch Rückkehrer aus Thüringen erfuhren sie, dass die Mutter lebte und immer noch im gleichen Hause wohnte, worin sich nach Abzug der Amerikaner russische Offiziere breit gemacht hatten.
Sie fassten sofort den Entschluss, so schnell wie möglich nach Thüringen zu fahren, um die Mutter aus der gefährlichen russischen Besatzungszone zurückzuholen. Das war ein schwieriges Unterfangen, denn es fuhren ja kaum Züge, und wenn, fuhren sie lediglich kurze Strecken. Lokomotiven, sowie Waggons standen der Bahn nur in beschränktem Maße zur Verfügung. Schließlich war das Schienennetz durch Kriegseinwirkungen über weite Entfernungen unbenutzbar geworden. Sie brauchten über 8 Tage, um die Zonengrenze per Anhalter, Schwarzfahren auf Puffern und Trittbrettern bei Göttingen zu erreichen. Die Russen hatten die Übergänge jedoch dicht gemacht, so dass ein Durchkommen unmöglich war.
Nach 14 Tagen im August 1945 starteten sie die gleiche Prozedur noch einmal, hatten dieses Mal Glück, weil sie sich einer ortskundigen Grenzgängergruppe anschließen konnten. Und ab Eschwege fuhr tatsächlich ein Zug nach Gotha über Bad Langensalza, ihrem Ziel.
Sie befanden sich nun in einer ganz anderen Welt. Nichts war zerstört, nur die vielen schwer bewaffneten Russen passten nicht unbedingt in den so friedlichen Rahmen. Man kann sich vorstellen, welche Szene sich abspielte, als sich die drei schluchzend in den Armen lagen.
Eins meiner vielen Interessen war immer schon, das aktuelle politische Geschehen in einem größeren historischen Zusammenhang zu sehen. Was mit Einzelschicksalen in ihrer jeweiligen Zeit passiert, habe ich schon in die Wiege gelegt bekommen, denn beide Eltern waren nach dem 2. Weltkrieg Flüchtlingskinder, mein Vater sogar noch Kindersoldat. Erst nach meiner Pensionierung konnte ich mich mit den Folgen dieser schrecklichen Zeit in der deutschen Geschichte beschäftigen und damit auch mit den Ursachen.
Bei meiner Arbeit ist mir ganz wichtig, immer auf das Alter der Erzählenden zu achten und immer danach (auch der Zuhörer sich selbst in seiner Biografie) zu fragen, inwieweit das politische Bewusstsein schon vorhanden war; und das ist bei jedem Menschen verschieden. Ich möchte ein Mosaikstückchen dazu beitragen, dass junge Menschen ihr persönliches politisches Bewusstsein bilden können; deshalb ist mir die Arbeit an Schulen eine Herzensangelegenheit.
Die Zeitzeugen fühlen sich manchmal unverstanden, wenn aus dem Heute Rückschlüsse nach Gestern geschlossen werden, frei nach dem Motto Warum habt ihr nichts gemerkt?, Wie konnte das passieren?, usw. Und genau hier ist der Punkt, an dem ein Austausch mit der jüngeren Generation stattfinden kann. Indem es den Zeitzeugen gelingt, dass sich die Schülerinnen und Schüler in die damalige Zeit versuchen hineinzuversetzen, können auch Bilder für das eigene Leben, für die eigene Zukunft entstehen.
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