Wohnen im Nachkriegsdeutschland

Infrastruktur und Bebauung 

Die Gegend, in der wir wohnten, war von Bauernhöfen, die in drei Richtungen zerstreut waren, und deren großen Ackerflächen und Feldern mit Wiesen umgeben. Wohnhäuser standen in größeren Abständen zueinander, einige davon wiesen gravierende Kriegsschäden auf und konnten nur teilweise bewohnt werden. 

In unserer Gegend gab es einen kleinen Lebensmittelladen, der aber erst im Laufe der Jahre sein Sortiment vergrößerte. Zweimal die Woche belieferten uns zudem ein Bäcker und ein Milchmann mit Brot und Milchprodukten. Der Bäcker machte sich mit einer lauten Glocke bemerkbar, und der Milchmann rief aus voller Kehle: „Der Milchmann ist da!“ Wollte man besondere Dinge kaufen, musste man in Richtung Oberhausen erst mal ungefähr 30 Minuten laufen, bis man in eine Gegend mit mehr Straßen und zu Geschäften kam.

Der Ausbau der Infrastruktur auf der Mülheimer Seite dauerte noch ein einige Jahre. Die heutige viel befahrene A40, die damalige Bundesstraße 1, war am Ende unserer Straße mit ihr ebenerdig. Seinerzeit wies die B1 zwei unübersichtliche Kurven auf, was eine gefährliche Angelegenheit war, wenn sich ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit näherte. So war es schon zu einigen fatalen Unfällen mit Fußgängern gekommen. Zum Ende der 1950er Jahre wurden Arbeiten in der Infrastruktur auch in unserer Straße durchgeführt. Kanalisation wurde gelegt, und die Bebauung einiger Grundstücke ging voran. Somit erhöhte sich auch der Anteil der Nachbarn, und nette Leute zogen hinzu.

Aber auch das Umland veränderte sich, denn viele Wiesen und Felder mussten großen Werken und Geschäftsunternehmen sowie Bürogebäuden weichen. Aus Feldwegen wurden Autostraßen, das Frequentieren durch Autos jeglicher Art nahm deutlich zu. Allmählich war unsere schöne Idylle mit ihren blühenden Blumen am Wegesrand, den kleinen Bächen und Tümpeln verschwunden. Viele Jahre später erfolgte noch eine riesige Baustelle, denn die ehemalige B1 wurde tiefer gelegt, da der Verkehr schon lange extrem zugenommen hatte. Die Mannesmann Röhrenwerke siedelten sich an.

Schlackenberg

Wir wohnten auf der Janshofstraße in Mülheim/Ruhr. Diese traf auf die Straße Am Kreuz in Oberhausen. Heute ist dort die kleinste Einbahnstraße der Welt, denn diese liegt zwischen 2 an einem Mast befestigten Verkehrsschildern, Abstand ca. 15 cm! Die Straße Am Kreuz mündet auf die Straße Bauerfeld. Diese beginnt an der Danziger Straße. An der Danziger Straße befand sich ein Bauernhof, und direkt hinter diesem Grundstück lag der Schlackenberg, eine riesige Abraum-Halde aus Schlacken, die von dem nahegelegenem Bergwerk, der Rolandzeche, dort aufgetürmt worden war. Rundherum befanden sich nur Felder.

Als der Krieg ausbrach, wurde in diesen Schlackenberg von Bergleuten eine Bunkeranlage hineingebaut, damit  bei Fliegeralarm nicht der ganze Weg zum Schlackenberg bewältigt werden musste. An den Arbeiten war auch mein Großvater mit einigen Nachbarn beteiligt. Der Bunker bot meiner Großmutter mit ihren Kindern und den nächsten Nachbarn während der Bombenangriffe Schutz; denn für die Bewohner der vereinzelten Gehöfte, egal ob in Mülheim oder Oberhausen, gab es keine andere Möglichkeit. 

Nach dem Krieg inspizierte mein Vater ihn 2-3 Mal im Jahr, um zu sehen, ob irgendwelche Schäden (Risse, Feuchtigkeit) entstanden sind. Denn über dem Bunker erstreckte sich eine bergige Aufschüttung  von Muttererde, die etwa 2 m hoch und mit Sträuchern bepflanzt war. Um den Bunker herum standen Holunderbäume, und in der Mitte ragte ein großer Birnbaum heraus. Dem Erdboden gleich führten 6 Stufen in die Tiefe. Eine Eisentür verschloss die beiden dahinter liegenden Schutzräume. Die Treppe war ebenfalls überdeckt mit einer schützenden Eisenplatte.

Baracken

Hinter diesem Schlackenberg standen Baracken. Zu Kriegszeiten lebten dort russische Zwangsarbeiter, weshalb man diese Gegend auch Russenkehle nannte. Die Leute, die dort während meiner Kindheit lebten, müssen Wohnungslose gewesen sein, die im Krieg ausgebombt waren.  Die Menschen dort lebten sehr erbärmlich. Sie hatten in den ersten Jahren nach dem Krieg keinen Strom, ich glaube der kam erst so ab 1957/1958, als dort eine Oberlandleitung verlegt wurde. Die Verhältnisse waren armselig, die Wege nur Schlammböden. Sie liefen z.B. mit Eimern rum, um ihre Exkremente auf dem Acker dahinter zu entsorgen. Wenn wir die Kinder sahen, begegnete uns das reinste Elend. 

Irgendwann waren auf einmal diese Baracken unbewohnt. Wo all diese Menschen geblieben sind, weiß ich nicht. Nach kurzer Zeit kam ein recht großer Zuzug von neuen Menschen. Wahrscheinlich dienten diesmal die Baracken als Notunterkünfte für Flüchtlinge und Vertriebene. Meine Mutter erklärte mir, das seien alles Menschen, die im Krieg ihr Hab und Gut verloren hätten und finanziell schlecht gestellt seien. Ihnen habe das Leben übel mitgespielt, sie könnten keine Unterkunft bezahlen und wurden auf diese Weise von der Stadt unterstützt.

Etwa Mitte der 1950er Jahre brachte die Stadt Oberhausen dort auch Familien unter, die sozial nicht gut gestellt waren. Und allmählich verbesserte sich dieser Aufenthaltsort, denn es war sicherlich nicht leicht, mit vielen  Menschen auf engstem Raum zusammen wohnen zu müssen. Die Baracken wurden gestrichen, und es leuchtete das Weiß der Fensterrahmen, welches man von Ferne sehen konnte. Es gab immer noch keine Bürgersteige oder eine richtige Abgrenzung zur Straße. Die Asphaltierung der Straße ließ noch recht lange auf sich warten. Regnete es kräftig, war der Boden matschig, schien lange die Sonne, war er hart wie Beton und staubte ohne Ende. Anstelle von elektrischen Straßen-Laternen standen in großen Abständen Gaslaternen, welche in den frühen Abendstunden durch den sogenannten Nachtwächter angezündet und im Morgengrauen wieder gelöscht wurden. Die Laternen gaben nur eine geringe Helligkeit ab, was eine extreme Finsternis zur Folge hatte und die gesamte Gegend gespenstig erscheinen ließ. Die Lichter gaben eher einen Hinweis zur Orientierung. Auch unsere Straße wurde erst gegen 1957/58 asphaltiert.

Es wagte auch keine Frau zu jener Zeit, in dieser Dunkelheit auf die Straße zu gehen. Es war von heute aus betrachtet ein eigenartiges Leben. Lief man in Richtung der Baracken, war es so finster, dass man meinte, man liefe in ein schwarzes Loch. Es hielt sich das Gerücht, dass auch einige Kriminelle in diesen Baracken lebten; allerdings war nie etwas in unserer Gegend an kriminellen Handlungen bekannt geworden .

Es wurden früher auch gewisse Sicherheitsvorkehrungen für die Wohnungen getroffen. So hatten meine Eltern und Großeltern an unseren Häusern Blenden aus Holz vor den Fenstern, Rollläden gab es nicht. Mein Opa hatte nicht nur von außen die Blenden angebracht, sondern selbst innen befanden sich welche, damit die Fenster doppelt gut abgesichert waren. Auch die Haustüren wurden abends fest zugeschlossen. Auch dort waren zur Sicherheit Zusatzriegel angebracht. Wir hatten ja alle nur das Plumpsklo, und wenn jemand nachts die Toilette aufsuchen musste, ging jedes Mal jemand als Begleitung mit.

Später wurden dann am anderen Ende der Straße Bauerfeld in Oberhausen Richtung Danziger Straße Steinhäuser gebaut. Auf der anderen Seite zum Schlackenberg hin kamen anschließend Obdachlose und Familien aus nicht guten sozialen Verhältnissen, von denen eine große Lärmbelästigung ausging. Dadurch herrschte unter den Anwohnern der wenigen Häuser in unserer Umgebung, trotz des relativ großen Abstands zu uns, eine gewisse Sorge. Nach einigen Jahren wurde auch diese kleine Ansiedlung aufgelöst.  

Wir Kinder konnten dann zum ersten Mal – da war ich 12 oder13 Jahre alt – den Schlackenberg besteigen, um einmal das Gefühl der Höhe zu bekommen,  welches Bild sich auf der begrünten Fläche dort oben bot. Zuvor galt für mich das Verbot, diese Gegend zu betreten.

Kein Telefonanschluss

Wenn einer von uns krank wurde, musste mein Vater oder meine Mutter in die Stadt nach Oberhausen laufen. Das war für Hin-und Rückweg fast eine Stunde Zeitaufwand, um den Arzt zu benachrichtigen und ärztliche Hilfe zu bekommen. Nach Mülheim wäre es noch umständlicher gewesen. Wir, die direkt an der Grenze Oberhausen/ Mülheim auf Mülheimer Gebiet wohnten, hatten in den 1950er Jahren nicht einmal die Möglichkeit, einen Telefonanschluss zu bekommen. Mussten Kohlen bestellt werden, blieb auch nur der persönlich Weg zum Kohlenhändler, um die erforderliche Menge zu  bestellen. Zwei Tage später kam er mit seinem Pferdefuhrwerk und lieferte uns die Kohlen aus. Bestellte man sie in Säcken, brachte er sie in den Keller, was extra honoriert wurde. Nach Mülheim zu laufen wäre umständlicher gewesen. Das war unsere Lebenssituationen.

Im Frühjahr 1973 beantragten meine Eltern einen Telefonanschluss, bekamen wenig später aber einen abschlägigen Bescheid. Die Begründung lautete, es seien keine zu vergebenden Rufnummern verfügbar.

Trotzdem wurde in den nächsten Monaten intensiv ausgebaut, damit weitere Kapazitäten geschaffen werden konnten. Einige Monate später, es war Ende 1973, kamen meine Eltern endlich in den Besitz eines Telefons. Es war ein grünes Tischgerät mit Wählscheibe. – Dieser Vorgang ist heute, wo das Handy zum normalen alltäglichen Gebrauch gehört, der Besitzer rund um die Uhr direkt erreichbar ist, kaum vorstellbar.

Trotzdem gibt es bis heute noch keine vernünftige Anbindung an die Infrastruktur in Form von Bus oder Bahn. Wir haben zwar jetzt in Mülheim Dümpten das phantastische Einkaufszentrum am Heifeskamp, die Metro, Aldi und alle möglichen Geschäfte, aber immer noch keine Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel. Wir müssen noch rauf bis zur Mellinghofer Straße laufen, um an eine Straßenbahn-Haltestelle zu kommen, die in die Innenstadt von Mülheim fährt. Auch bis zur Bus-Haltestelle nach Oberhausen bedeutet dies einen Gehweg von etwa 20 Minuten. Somit ist man ständig auf ein Auto angewiesen, besonders wenn größere Einkäufe anstehen. Nichtsdestotrotz ist  die Wohngegend noch heute ansprechend und angenehm.

Das eigene Haus 

Nach und nach wurden in unserer Gegend ein paar Häuser gebaut, andere umgebaut. Meine Eltern haben sich ab Mitte der 1950er Jahre auch mit dem Wunsch, ein Haus zu besitzen, beschäftigt. Das Grundstück meines Großvaters war riesig, und er bot meinen Eltern die Hälfte davon zum Kauf an. Anfang der 1960er Jahre begannen sie mit dem Bau unseres Einfamilienhauses, und 1962 war es bezugsfertig.

Nach dem Umzug ergab sich ein ganz anderes Lebensgefühl. Man lebte nicht mehr so eng beieinander wie in dem kleinen Häuschen, wo ich kein Kinderzimmer hatte. Nun konnte ich mich in meinem Zimmer selbst verwirklichen, da es schön und gemütlich eingerichtet war. 

Als wir noch in dem kleinen Häuschen wohnten, fanden die Treffen mit meinen Freundinnen immer bei uns statt, obwohl ich dort ja kein eigenes Zimmer hatte. Daran änderte sich auch nichts nach dem Umzug, außer dass ich jetzt mein eigens Zimmer hatte, mein kleines Reich, welches ich mir nach meinen Wünschen gestalten konnte und in dem ich, ohne jemanden zu stören, meine Freundinnen empfangen oder mich zum Lesen zurückziehen konnte. Wir klönten oder hörten Musik. Selbst nach 50 Jahren bei einem Klassentreffen wurde ich noch auf dieses Haus angesprochen. Der absolute Höhepunkt war mein eigenes Zimmer,

Das Haus stand auf einer kleinen Anhöhe und war sofort ein Blickfang. Wenn ich mir die Fotos von früher anschaue, muss ich feststellen, dass ich mich in dieser Zeit sehr wohl gefühlt hatte. Als es meinen Eltern im Laufe der Jahre wirtschaftlich wesentlich besser ging, zog auch bei uns ein gewisser Wohlstand ein.

Das Tollste an dem ganzen Haus waren nicht nur die großen Räume, sondern wir hatten auch ein Gäste-WC und ein Badezimmer mit Toilette, ein für damalige Verhältnisse  großes Badezimmer mit seegrünen Fliesen. Das war natürlich für mich das absolute Highlight, nachdem ich einige Jahre nur in der Zinkwanne gebadet worden bin und das Plumpsklo benutzen musste. Bis auf wenige einzelne Möbelteile, die den Umzug mitgemacht haben, gab es eine komplett neue Wohnungseinrichtung. Eine Heizung wärmte das gesamte Haus, vom Wohnzimmer aus trat man direkt auf die Terrasse.

Jutta Loose
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