Berufsfindung

 Lesung im Medium Haus Mülheim                                           

Bei meiner Einschulung im Frühjahr 1956 wohnte ich mit meinen Eltern in Mülheim-Dümpten; direkt an der Grenze zu Oberhausen.

Auf unserer Straße standen zum damaligen Zeitpunkt 5 Häuser, und im angrenzenden Teil von Oberhausen waren es ebenfalls sehr wenige. Es war eine recht einsame Gegend mit vielen freien Flächen, welche von hohen Hecken eingezäunt waren.

Meine Eltern wollten nicht, dass ich diesen Wegen alleine ausgesetzt wurde.

Dies wurde zu meiner Schulzeit zu einem Problem, da ich normalerweise in Mülheim-Oberdümpten zur Schule hätte gehen müssen.

Der Weg dorthin gestaltete sich noch einsamer, da er im ersten Abschnitt – etwa 30 Min. – nur durch Felder verlief.

Da die Volksschule in Oberhausen ganz in unserer Nähe lag, der Weg von unserer Wohnung bis zur Schönefeld-Schule ca. 5 Min. betrug, stellten meine Eltern einen Antrag in Oberhausen, damit die Erlaubnis des anstehenden Schulbesuches eingeholt werden konnte.

Im Herbst 1955  ging meine Mutter mit mir zum dortigen Rektor. Dieser stellte mir diverse Fragen und ich musste einige kleine Rechenaufgaben lösen.

Danach schaute er sich meine Hände und Fingernägel an, erkundigte sich, wann ich abends ins Bett müsste und danach konnten wir gehen.

Nach 2 Wochen der Ungewissheit kam die Erlaubnis für den Schulbesuch in Oberhausen.

Ich freute mich riesig auf meine Einschulung. Meine Leistungen in der Schule waren gut und ich ging immer gerne zur Schule.

Nach Beendigung der 4. Klasse sollte ich das Lyzeum in Oberhausen besuchen. Im Vorfeld hatten meine Eltern schon früh genug beim Lyzeum in Oberhausen einen Antrag gestellt, damit ich das Gymnasium besuchen durfte.

Dies geschah aus den gleichen Gründen wie bei der Volksschule. Wir wohnten noch immer an der Grenze Oberhausen/Mülheim und eine Wegstrecke wäre aufgrund der mangelnden Infrastruktur in Richtung Mülheim 1-1,5 Stunden gewesen.

Die Prüfung zur Aufnahme habe ich bei dem Lyzeum in Oberhausen abgelegt und bestanden. 1 Woche vor Schulbeginn nach den Osterferien bekamen meine Eltern den Bescheid, dass ich nicht angenommen werden könnte. Die Begründung lautete: Da es zu viele Bewerberinnen gegeben hätte und die Klassen ausgelastet seien und ich aus Mülheim sei.

Also besuchte ich meine alte Schule weiter und war natürlich ziemlich enttäuscht. Meine Eltern haben mir dann mitgeteilt, dass ich nach Beendigung der Volksschule die Möglichkeit hätte -für zwei weitere Jahre auf  einer Hauswirtschaft Schule in Oberhausen/Sterkrade – meine mittlere Reife ablegen zu können.

Damit war ich einverstanden, zumal sie noch sagten, dass ich, wenn ich es wünschte, auf einer anderen Schule mein Abitur machen könnte.

Diese Aussichten trösteten mich über die erlebte Enttäuschung hinweg. Und so besuchte ich nach meiner Entlassung aus der Volksschule die KÄTE KOLLWITZ Hauswirtschaft Schule in Oberhausen/Sterkrade. Dort wurden alle üblichen Schulfächer unterrichtet, die zur Erlangung der mittleren Reife erforderlich waren. Aber zudem gab es noch den hauswirtschaftlichen Teil wie Haushaltsführung, Kochen, Bügeln, Gartenarbeit, Aufbau und Funktion von Elektrogeräten.

Der Besuch der Käte-Kollwitz-Schule verlangte mir physisch eine Menge ab.

Es war eine anstrengende Zeit, da der Weg dorthin aufwendig war. Von unserer Wohnung lief ich forschen Schrittes zunächst 25 Min. bis zur Straßenbahnhaltestelle nach Oberhausen, fuhr 15 Min. mit der Straßenbahn und musste danach in eine andere Bahn in Richtung Sterkrade umsteigen, welche mindestens 20 Minuten unterwegs war, danach folgte ein Fußweg von weiteren 15 Min. bis zur Schule.

Die Schule war von morgens 8 Uhr bis nachmittags 15-16 Uhr sowie einmal wöchentlich bis 17 Uhr. Danach kam der Rückweg nach Hause. Dort mussten noch die Hausaufgaben erledigt werden.

Nach 2 Monaten entschied ich mich, den Weg mit dem Fahrrad zurückzulegen. Somit ersparte ich mir eine Menge Fahrzeit.

Einige Monate, bevor ich meine mittlere Reife erreicht hatte, verließ mich die Lust weiterhin die Schule zu besuchen. Ich war gut in der Schule, aber ich wollte einfach nicht mehr, mir fehlte die Motivation, der Wunsch eigenes Geld zu verdienen war groß.

Ich habe dies mit meiner Mutter besprochen, aber für sie kam es nicht in Frage und sie sagte: „Wir haben doch besprochen, Du machst das Abitur.“ Sie glaubte, es sei nur eine vorübergehende Phase und ich würde wieder zur Vernunft kommen.

Mein Vater, der selbstverständlich ebenfalls in das Gespräch involviert war,  merkte die Ernsthaftigkeit meines Wunsches, und, dass es mir nicht gut ging und ich keine Flausen im Kopf hatte.

So kamen wir nach reiflicher Überlegung dazu, dass ich einen Beruf ergreife, der mit Menschen zu tun hätte, denen ich helfen könnte.

Karneval Samstag 1966 erweckte eine Stellenanzeige eines Internisten in der Zeitung meine Aufmerksamkeit, denn er bot eine Ausbildungsstelle zur Arzthelferin an.

Am Rosenmontag machte ich mich früh morgens auf den Weg zu der in der Anzeige angegebenen Adresse. Meine Mutter wähnte mich in der Schule, nur mein Vater wusste von meinem Vorhaben.

Das Gespräch mit dem Arzt verlief angenehm und zum Ende fragte er mich, wann ich anfangen könnte. Meine Antwort kam spontan und ich sagte: „Morgen.“ Er lachte und wollte wissen, ob meine Eltern mit meinem Vorgehen einverstanden seien. 

Wahrheitsgemäß antwortete ich ihm, dass ich ihm diese Frage nicht genau beantworten könnte, aber ich würde mit ihnen sprechen.

Wir vereinbarten, sollten meine Eltern ihre Zustimmung geben, könnte ich ab Aschermittwoch für drei Tage ein kleines Praktikum zur Probe machen.

Dieses Angebot nahm ich gerne an und war von der ersten Minute an fasziniert, was mich in meinem zukünftigen Beruf alles an Tätigkeiten erwartete: wie Patientenbetreuung, ein riesiges Aufgebot an Laboruntersuchungen einschließlich der Blutentnahmen, Abrechnungswesen, verschiede Ableitungen im EKG-Bereich sowie das große Gebiet Röntgen, Wundversorgungen, und noch viele andere wichtige Dinge.

Mir war sofort klar, dass dies der Weg ist, den ich künftig einschlagen wollte.

Als Dank für das Praktikum erhielt ich von dem Arzt einen Umschlag, der eine Geldsumme und 2 Kinokarten enthielt.

Nach drei weiteren Tagen wurde ich nochmals in der Praxis vorstellig und erhielt die Zusage zur Lehrlingsausbildung zur Arzthelferin. Der dafür erforderliche Vertrag wurde mir ausgehändigt und musste nur noch von meinen Eltern unterschrieben werden.

Die Freude meinerseits war riesig, dass ich die Ausbildungsstelle bekommen hatte, denn es gab neben mir noch weitere 11 Mitbewerberinnen.

Auch mein Vater freute sich mit mir, als ich strahlend nach Hause kam. Nur meiner Mutter stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. 

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass meine Mutter eine Woche nicht mit mir gesprochen hat, so sehr hatte sie meine Entscheidung verletzt.

Sie hat das Schweigen tatsächlich durchgehalten, auch mit meinem Vater. Obwohl sie nicht mit mir sprach, hat sie mir dennoch mein Frühstück zubereitet und mir mein Mittagessen und Abendbrot angerichtet.

Mein Vater hat mich getröstet, da ich mit solch einer Situation nicht umgehen konnte und in unserer kleinen Familie nicht kannte.

Nach einer Woche habe ich das Gespräch mit meiner Mutter gesucht, mich bei ihr entschuldigt und ihr meine Beweggründe nochmals genau erklärt, warum ich so gehandelt habe.

Nach diesem Gespräch war zwischen uns wieder alles im Reinen und wir sind gemeinsam in die Stadt gegangen und haben meine Arbeitskleidung – 4 weiße Kittel  – gekauft.

Selbstverständlich habe ich auch meine Eltern verstanden, die es lieber gesehen hätten, wenn ich weiter zur Schule gegangen wäre, da sie der Meinung waren, dass ich damit bessere Perspektiven für mein späteres Berufsleben hätte. Zum Glück haben wir diese Situation mit gegenseitiger Achtung und dem entsprechenden Respekt voreinander gut überstanden. Das Thema wurde nie mehr angesprochen und führte zu keiner Zeit zu irgendwelchen Diskussionen oder gar negativen Bewertungen.

Im April 1966 begann meine offizielle Ausbildung. Selbstverständlich besuchte ich während meiner Lehre die Berufsschule, die ich gerne besuchte und mit einem bestandenen Examen vor der Ärztekammer beendete.

Im ersten Lehrjahr war mein Verdienst 100 DM und im zweiten erhöhte sich der Betrag auch 130 DM. Dieses Geld konnte ich komplett für mich behalten. Wie schon erwähnt, musste die Arbeitskleidung nicht nur selbst gekauft, sondern auch gewaschen und gebügelt werden. Das Stellen der Arbeitskleidung kam erst viele, viele Jahre später.

Vom ersten Tag meines Arbeitsantritts habe ich meine Tätigkeit voller Freude und Überzeugung ausgeführt. Die bereichernden Kontakte zu den Patienten, das freundliche Arbeitsklima, das hervorragende Verhältnis zu meinen Kolleginnen , 

war sicherlich eine Situation, die sich jeder wünscht, wenn er im Berufsleben steht.

Schon kurz vor Beendigung meiner Lehre beherrschte ich alle anfallenden Arbeiten. Ich war sehr wissbegierig, konnte aber auch die an mich gestellten Aufgaben schnell umsetzen. In vielen innerbetrieblichen Situationen bin ich ins kalte Wasser geworfen worden, aber ich stellte mich jeder Herausforderung, war für alles Neue aufgeschlossen. 

Die Arbeitszeiten waren allerdings immens. Morgens von 7 Uhr bis manches Mal 10-11 Uhr. Erwähnen Muss ich, dass mein Chef mich jeden Morgen abholte und abends wieder nach Hause brachte, da ich von allen Angestellten den weitesten Weg hatte.

Da das gesamte Personal in der Mittagspause nicht nach Hause ging, sorgte  unser Chef für unser leibliches Wohl. Entweder konnten wir mittags in einem nahegelegenen Restaurant essen gehen oder einer vom Personal ging zum ebenfalls nahe gelegenen Kaufhof mit einer Wunschliste auf Kosten des Arztes für uns in der Delikatessenabteilung einkaufen. Anschließend haben wir in  fröhlicher Runde zusammen gespeist. Jeden Freitag gab es einen großzügigen Extrabonus für geleistete Arbeit in der Woche.

Nach Beendigung meiner Lehre bekam ich sofort die Leitung der großen internistischen Praxis, die inzwischen in ein sehr modernes Ärztehaus umgezogen war, übertragen, was auch für mich mit einer deutlichen Gehaltserhöhung verbunden war. Trotz der vielen Arbeit hatte ich das große Los mit meinem Arbeitgeber gezogen, denn er ließ mir immer freie Hand, wir kommunizierten auf Augenhöhe und meine Meinung war ihm wichtig.

Nach 6,5 Jahren verließ ich die Praxis aus privaten Gründen und trat eine leitende Stellung in einer Mülheimer Hausarztpraxis an, die sehr internistisch ausgerichtet war. Allerdings führten wir dort auch kleine chirurgische Eingriffe durch. 25 Jahre habe ich dort  mit dem gleichen Arzt vertrauensvoll zusammengearbeitet, bis er schließlich seine Praxis an seinen Sohn übergab.

Ich hatte wirklich großes Glück. Auch diese Zusammenarbeit mit dem jungen

Arzt gestaltete sich als ausgesprochen angenehm und auf der Basis gegenseitigen Vertrauens. Er unterstütze mich sehr darin, alle sich mir bietenden Möglichkeiten mein Wissen auf vielen Gebieten noch mehr zu erweitern. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse konnte ich beruflich  einsetzen und an meine Kolleginnen weitergeben.

Alle drei Ärzte haben mir während meiner gesamten Berufszeit die Möglichkeit zur Weiterbildung ermöglicht und mich dabei unterstützt. So besuchte ich unzählige Seminare und Weiterbildungsmaßnahmen. Spezialisierte mich auf das „Thema Diabetes mellitus“, welches ich bis zum Ende meiner Berufstätigkeit beibehalten habe. Dadurch war es mir möglich eigenständige Schulungen mit Patienten und Arzthelferinnen durchführen zu können. Ebenfalls bekam ich die Chance für Pharmazeutische Firmen Seminare abhalten zu dürfen, was für mich eine zusätzliche Bereicherung war.

Dies war zwar mit viel Reisen, Lernen neuer Lehrstoffe und Mühen verbunden, aber ich habe es als positive Erfahrung gesehen, die ich auch an unsere Patientenklientel weitergeben konnte,

Wenn mich heute jemand fragt, ob ich meinen Schulabbruch bereuen würde, so kann ich diese Frage – bezogen auf die damalige Zeit und unserer Wohngegend – mit einem klaren „Nein“ beantworten.

Im Laufe von über 5 Jahrzehnten habe ich so viele nette Menschen kennengelernt, so viel an Zuneigung erfahren, so viele positive Erfahrungen machen dürfen, unendlich viele, liebevoll geschriebene Zeilen bekommen und etliche, durch meinen Beruf bedingte Freundschaften geschlossen.

Allerdings kann ich mir heute gut vorstellen, dass ich bei einer zentraleren Wohnungslage mit besserer Anbindung an den Nahverkehr eine andere Lösung und Entscheidung in Betracht ziehen würde, aber es hätte wieder etwas mit Menschen zu tun.

 

Jutta Loose
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