Kneipe in den 1950-er Jahren im Ruhrgebiet

Wenn junge Leute heute ausgehen, um sich mit Freunden oder Gleichgesinnten zu treffen, dann sind die Orte, die sie aufsuchen – jedenfalls meinem Eindruck nach –entweder ein Szene-Lokal, eine Disco oder ein Club, ein Bistro, eine Live-Veranstaltung, eine Freilichtbühne, McDonald’s oder V ergleichbares, ein Szene-Café oder andere Lokalitäten, deren Begrifflichkeit mir vom Namen her nicht geläufig sind. Dies hat sicherlich damit zu tun, dass ich in einer anderen Zeit groß geworden bin. Allerdings ist mir auch aufgefallen, dass sehr viele junge Menschen auch die Annehmlichkeiten eines Restaurant-Besuchs mit einem guten Essen genießen und sich anregend unterhalten.

Mitte der 1950-er Jahre lernte ich bereits als Schulkind durch meine Familie die „Kneipe“ kennen. Ich wuchs in Oberhausen auf, eine Stadt im Herzen des Reviers. Wir identifizierten uns hier im Kohlenpott gerade mit diesen Kneipen. Sie waren Begegnungsstätten der vielen „Kumpels“ aus den unzähligen Zechen, die in Betrieb waren und einen erheblichen Anteil am Wiederaufbau Deutschlands hatten. – Heute würden wir sagen: Der Kumpel war systemrelevant. – Die vielen Bergleute wollten einfach nach ihrer „Maloche“ Unterhaltung und Vergnügen haben. Dafür boten sich die unzähligen Kneipen geradezu an, befanden sie sich doch an fast jeder Straßenecke. 

Einige von ihnen waren nur ein paar Quadratmeter groß, doch eigentlich waren alle ähnlich eingerichtet, da sie in der Regel von den Brauereien ausgestattet wurden. So gab es überall diese blitzenden Zapfhähne, aus denen unendlich viele Biergläser mit dem Gerstensaft gefüllt wurden, um den Durst der Leute zu stellen. Die Erdnuss-Automaten auf der Theke gehörten ebenso zum Inventar wie die großen grünen Sparkästen an der Wand, an denen ein kleiner silberner platter Löffel an einer meist ausgefransten Kordel hing; dieser Löffel diente zum Durchstoßen einer im Einwurfschlitz hängen gebliebenen Münze oder gar eines Geldscheines. 

Der Tresen war meist nur so groß, dass etwa 4-5 klobige Holzbarhocker davor Platz fanden. Zur Bequemlichkeit des Gastes waren an der Vorderseite der Theke oben und unten jeweils eine massive schwarze Metallstangen angebracht. Auf der oberen konnte der Gast sich mit den Armen abstützen und auf die Unterstange seine Füße stellen. Meist hinten links auf diesem relativ kleinen Tresen stand eine übergroße Kuchenplatte mit Glasdeckel. Unter dieser Haube lagen mindestens ein Dutzend braune, manchmal bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Frikadellen. Man wusste nie so richtig, aus was sie sich zusammensetzten, aber geschmeckt haben sie, und wie! Daneben lagen einige stark geräucherte Mettwürste, und manches Mal standen neben dieser Fleischplatte auch Gläser mit Rollmöpsen und Soleiern. Man aß sie seinerzeit mit einem Schuss Öl, Senf und Essig. 

Hinter dem Tresen stand der Wirt, in der Regel eine Kultfigur, meist übergewichtig, spritzig, die wenigen Haare wie es damals üblich war mit billiger Pomade nach hinten gekämmt und unterhalb des Bauches eine Lederschürze gebunden. Ich sehe noch unseren Wirt mit einem dicken Bleistift hinter dem rechten abstehenden Ohr geklemmt. Der Bleistift war für gewöhnlich mit dem Küchenmesser angespitzt und hinter dem Ohr immer griffbereit, um das soeben bestellte Bier mit einem langen Strich auf dem total durchnässten und pappigen Bierdeckel zu kennzeichnen. Danach wanderte dieser Deckel in eine große Schublade, welche sich mit einem blechernen Pling öffnete, und sich etwa unterhalb der Zapfanlage und den stets blitzblanken, sich spiegelnden Metallplatte, auf welcher die angezapften Biere standen, befand. 

Dort lagen nun diese unbezahlten Deckel, Tag für Tag wurden es mehr, diese zinslosen Darlehen des kleinen Mannes, und warteten nur auf den 15. oder 30. eines jeden Monats, um endlich ausgelöst zu werden. An diesen Tagen konnte man schon kilometerweit die gute Stimmung, das fröhliche Lachen des „Kumpel Anton von Schacht 4“ wahrnehmen. – Kumpel Anton ist ein fiktiver Charakter einer Ruhrgebietsglosse (WAZ) und erlangte als Protoptyp des Bergmanns Kultstatus im gesamten Ruhrgebiet. – Da wurde über Politik, über die Erfolge des geliebten Fußballvereines und über Frauen gesprochen, oder darüber, was man doch für ein toller Liebhaber sei. Oskar, unser Wirt – und es war eine Ehre ihn so nennen zu dürfen – wurde in jede Diskussion mit einbezogen, man holte sich Rat bei ihm, und spendierte ihm einen Kurzen (meist Korn). 

Es gab auch Kneipen, deren Gastwirtschaftsraum größer war und die zusätzlich noch einen riesigen Saal für größere Veranstaltungen hatten. Manche besaßen noch ein sogenanntes Stübchen für kleinere Zusammenkünfte, z. B. für Stammtische, manche auch eine Kegelbahn. In diesen Gaststätten waren die Tische mit einer gestärkten Tischdecke versehen und eine Speisekarte lag bereit. Ebenso zierten eine kleine Blumenvase – oft mit einem Buschwindröschen bestückt – sowie Pfeffer- und Salzstreuer den Tisch.

In solchen Gastwirtschaften wurden in dem großen Saal damals die Rentenbezüge ausgezahlt. Viele Male war ich dabei, wenn mein Großvater ausbezahlt wurde, während  ich im Gastraum an einem Tisch auf ihn wartete, vor mir mein „Flöckchen“, besonders gerne mit einem Strohhalm. Das Flöckchen war eine kleine Flasche Sinalco oder Bluna.

Trotz seiner Einfachheit erinnere ich mich gerne an die Kneipen, diese Urgesteine des Ruhrgebiets, denen Peter Alexander mit dem Kultlied „Die kleine Kneipe“ eine besondere Ehre erwies. Auch ohne Social Media und Navi fand man gerne dorthin, traf sich, knüpfte neue Bekanntschaften und erlebte auch manch schöne Stunde.

Jutta Loose
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