Besuch der Alten Synagoge

in Essen am 17.10.2018

Wir – elf Teilnehmer der ZeitZeugenbörse Mülheim – fuhren um 10.00 Uhr mit dem  gecharterten Bus zur Alten Synagoge in Essen an der Steeler Straße, wo sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts das Steeler Tor in der Essener Stadtmauer befand. Der Eintritt zur Alten Synagoge war frei. Die geführte und mit eineinhalb Stunden veranschlagte  Führung (45 Euro) wurde von der  Kunsthistorikerin Dorothee Rauhut durchgeführt.

Bis heute ist die Alte Synagoge in Essen das größte freistehende Synagogengebäude nördlich der Alpen. Das imposante Gebäude mit seinen gedrungenen Formen (etwa 70 Meter lang mit einer 37 Meter hohen Kuppel) wurde im Wilheminischen Stil erbaut und lässt den  Betrachter ahnen, dass hier auch der Wunsch der Juden auf  Anerkennung im Deutschen Kaiserreich zum Ausdruck kommen sollte. Die Baustile reichen von einer Ornamentik aus jüdischen Traditionen bis zu Orientierungen an christlicher Kirchenarchitektur.

Modell Der Alten Synagoge in Essen

1911 war Baubeginn, und 1913 wurde die Alte Synagoge eingeweiht. Für die folgenden fünfundzwanzig Jahre war sie das kulturelle und soziale Zentrum der Jüdischen Gemeinde, die  in den Dreißigerjahren rund 4500  Mitglieder zählte.

1938 wurde die Alte Synagoge  während der Judenpogrome am 9./10. November im Inneren schwer beschädigt und hatte in den folgenden Jahren  keine Funktion mehr.

Von 1945 bis 1959 stand die Alte Synagoge ungenutzt als Ruine am Rande der Innenstadt. Die in der Zeit des Nationalsozialismus stark dezimierte jüdische Gemeinde hatte nur noch zweihundert Mitglieder und nutzte das erhalten gebliebene Rabbinerhaus an der Alten Synagoge als Gebetshaus.

1959 entschloss sich die jüdische Gemeinde zu einem Neubau an der Sedanstraße  in Essen nahe der Ruhrallee im Ostteil der Stadt. Auf dem ihr dort gehörenden Gelände hatten die Nazis die  von der jüdischen Gemeinde im Jahre 1932 erbaute jüdische Jugendherberge am 9./10. November 1938 zerstört und später auch gänzlich beseitigen lassen; ein Modell der ehemaligen Jugendherberge, die im Ausdruck der modernen Zeit gebaut worden war, gehört zu den Ausstellungstücken in der Alten Synagoge. Größe und Modernität  der ehemaligen Jugendherberge überzeugen auch noch heute.

1960 verkaufte die jüdische Gemeinde ihre Alte Synagoge an die Stadt Essen, um ihren geplanten Neubau finanzieren zu können. Und die Stadt Essen richtete in der von ihr  erworbenen Alten Synagoge  ein Museum für Industriedesign ein, nachdem sie zuvor den Thorarollenschrank, die Frauenempore und noch vorhandene synagogale Einrichtungselemente hatte beseitigen lassen und im Inneren einen völlig veränderten und mit Zwischenwänden ausgestatteten Raum schuf, der kaum noch an den ehemals bestehenden Innenraum der Alten Synagoge erinnerte.

1979 beschädigte ein durch Kurzschluss entstandener Brand die Designausstellung dann aber  stark. Und im Zusammenhang mit der in den Jahren veränderten Einstellung im Umgang mit diesem Ort, beschloss der Essener Rat, die  Alte Synagoge wiederum neu auszurichten.

Innenraum der Synagoge mit geöffnetem Thoraschrein

1986 – 1988 wurde der ehemalige  Synagogenraum im Ansatz wieder sichtbar gemacht:  Der Thoraschrein  und die Empore wurden aufgebaut, die Kuppel wurde durch eine Zwischendecke versteckt und  die zwischenzeitlich gesetzten Zwischenwände wurden entfernt. Das  heutige Innere der Alten Synagoge  erhielt eine Farbgebung in Apricot und Flieder. Die umfangreichen, gut zwei Jahre währenden Bauarbeiten waren umfangreich und erfolgreich, wenngleich  sich das heutige Innere nach wie vor nicht so darstellt, wie es sich ehedem einmal  zeigte.

Heute ist die Alte Synagoge Museum, Gedenkstätte, Kulturzentrum und  Erlebnisort. Zahlreiche Veranstaltungen werden im Laufe eines Jahres durchgeführt. Unterschiedliche Ausstellungsbereiche sind auf das Erdgeschoss und auf  die Empore mit dem dazugehörigen  Zwischengeschoss verteilt. Die Ausstellungsbereiche haben die Schwerpunkte Quellen der jüdischen Tradition, Geschichte des Hauses, Geschichte der jüdischen Gemeinde in Essen, Zu jüdischen Festen und Jüdischer Way of Life. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird jeweils zwischen jüdischem Glauben und jüdischer Kultur ein Bogen gespannt und die Traditionen und Lebensweise des Judentums werden thematisiert.  Man erhält sehr gute Informationen darüber, wie sich das jüdische Leben zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts sowohl im  kulturellen als auch im  religiösen sowie  auch im Berufs-, Schul- und Alltagsleben entwickelte. Zum Bestand gehören weiterhin Fotografien, zeitgenössische Briefe, Schulzeugnisse, Poesiealben, biografische Aufzeichnungen sowie Zeitungsausschnitte. Und:  Man erfährt viel über das Schicksal der Juden in den Zeiten des Nationalsozialismus.

Blick von der obersten Empore auf ehemalige Frauenempore und Altarraum
Blick auf Altaraum

Die Größe des Hauptraumes im Erdgeschoss ist beachtlich und fasst bis zu 1500 Besucher. Der Lichteinfall durch die sechs großen Fenster bietet einen überraschenden Raumeffekt. Auf den Fenstern sind zentrale  jüdische Feiertage vermerkt, die auf den Fenstern der Alten Synagoge vor ihrer Zerstörung in 1938 auch bildlich dargestellt waren: Rosch ha-Schana (Fest des Jahresbeginns, aus dem die Berechnung der Kalenderjahre resultiert), Sabbat, (der siebte Tag der Woche und ein wichtiger Feiertag der Juden), Pessach (Erinnerung an den Auszug aus Ägypten beziehungsweise an die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei),  Schawuot  (das jüdische Wochenfest, das 50 Tage, also sieben Wochen plus einen Tag nach dem Pessachfest gefeiert wird),

Der  T h o r a s c h r a n k  an der Vorderwand der Synagoge wurde anstelle des  in den achtziger Jahren abgerissenen Thorarollenschrank zwar wieder eingebaut, hat aber nicht mehr die Bedeutung wie ehedem, da die Alte Synagoge heute ein Museum und kein jüdisches Gotteshaus mehr ist.

Der Löwe steht für den Stamm Jehuda aus Gen 49,9
Blick auf Thoraschrein

Die in einem Schrank aufbewahrte Thora (hebräisch, Gebot, Weisung, Belehrung) ist im Übrigen eine handgeschriebene Pergamentschriftrolle und die Hauptquelle jüdischen Rechts sowie der  Wegweiser für Denken und Lebenswandel der Juden. Aus der Thora  wird im Laufe des Jahres an allen Sabbat – und Feiertagen,  an Montagen und Donnerstagen (ehemalige Markttage) gelesen, wobei der jüdische Kalender im Herbst beginnt, und zwar mit dem ersten Tag des siebten Monats Tischri, der, oben bereits erwähnt, auch   Rosch ha-Schama („Haupt des Jahres“) genannt wird.

Da der jüdische Kalender im Jahre 3761 vor unserer Zeitrechnung beginnt  – dem Jahr, in dem nach jüdischer Auffassung die Menschen  erschaffen wurden – leben wir heute im Jahr 5779. Und  neben einem Normaljahr mit 12 Mondmonaten (ordentlich 354 Tage lang) gibt es  zur Angleichung an das Sonnenjahr Schaltjahre mit 13 Mondmonaten (ordentlich 384 Tage lang)  .

Zu der wieder eingebauten  O r g e l  erläuterte Frau Rauhut, dass es bis Anfang des 19. Jahrhunderts überhaupt keine Orgeln in Synagogen gegeben hätte, denn grundsätzlich sei der jüdische Gottesdienst ein Wortgottesdienst, und Orgeln seien stets für christliche Kirchenmusik aufgestellt worden. So hätten denn auch in Synagogen eingebaute Orgeln zwischen orthodoxen und reformorientierten Gemeinden stets zu langen  und heftigen Auseinandersetzungen geführt, die sich in der Öffentlichkeit  niederschlugen. Wechselseitig habe man sich als „Örgler“ oder als „Nörgler“ bezeichnet.

Interessant ist das Multimedia-Projekt auf der Orgelempore.

Blick von oben auf den hinteren Teil der Synagoge
Ahnung von prachtvollen Fenstern

In einem Treppenaufgang vom Erdgeschoss zur Empore werden  Bilder jüdischer Prominenter gezeigt, u.a.: Hugo Egon Balder (Entertainer, „Tutti Frutti“), Sammy Davis jr. (Entertainer), Michael Degen (Schauspieler), Albert Einstein, Peter Falk (Schauspieler, „Columbo“), Ilja Richter (Entertainer), Hans Rosenthal (Entertainer)  und viele andere mehr.

Interessant ist das Multimedia-Projekt auf der Orgelempore.

Eine weitere Empore – das so genannte Zwischengeschoss – über dem Eingang und noch über der so genannten Frauenempore,  gibt einen Blick in etwas frei, was man umbaute Weite nennen könnte. Man erkennt den konsequenten Umbau und die Größe und Weite des harmonischen Hauptraums  und nichts verstellt  den Blick. Und so etwas lässt einen nicht unberührt.

Im Zwischengeschoss wird man mit den Besonderheiten des jüdischen Lebens bekannt gemacht,  und es wird klar, dass Religiosität nicht gleich Weltfremdheit bedeuten muss.

Und was es noch zu erwähnen gilt: Die komplizierten Speisevorschriften im Judentum, die wir bereits bei unserem Besuch in der jüdischen Gemeinde in Duisburg kennenlernten,  wurden uns noch einmal nahegebracht. Und was koscher ist und was nicht, wurde an Beispielen erklärt: Es muss  von Tieren mit Wirbelsäule kommen, die Paarhufer und Wiederkäuer sind und nach bestimmten Regeln geschlachtet werden.

Zeitzeugen vor einem Schaukasten zum jüdischen Leben
Empore
Foto: Ernst van Megern

Fotos, Briefe und Gegenstände zeigen das ehemals blühende jüdische Leben in Essen, das durch den Holocaust weitestgehend vernichtet wurde. Viele Gemeindemitglieder – 2500 an der Zahl, die namentlich nicht genannt werden – wurden während der NS-Zeit zunächst in das jüdische Ghetto in der polnischen Stadt Lodz  und von dort dann in die  Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka gebracht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte die jüdische Gemeinde in Essen 200 Mitglieder und schrumpfte in den Folgejahren auf nur 120 Mitglieder. Befürchtungen kamen auf, dass sich die jüdische Gemeinde  „verflüchtigen“ könne. Im Zusammenhang mit dem  Zerfall der Sowjetunion, der mit der Unabhängigkeit der  sowjetischen Unionsrepubliken zwischen 1990 und 1991  seinen Abschluss fand, kamen aber zahlreiche Juden aus Russland  nach Deutschland und auch die jüdische Gemeinde in Essen profitierte hiervon. Nach dem aktuellen Stand zählt die jüdische Gemeinde in Essen heute etwa 950 Mitglieder.

Bleibt abschließend zu betonen, dass sich die Besichtigung der Alten Synagoge unbedingt gelohnt hat. Ein Dank an die Organisatoren und an Frau Rauhut, die eine informative, lehrreiche und gute Führung machte.

Um 13.00 Uhr waren wir wieder in Mülheim zurück.

 

 

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