Amerikaner und Engländer in Mülheim

Ursula Ulrike Storks im April 2019

anlässlich einer Lesung in der Buchhandlung am Löhberg

Ich bin im Januar 1939 geboren und praktisch mit dem Krieg groß geworden. Meine persönlichen Erinnerungen gehen eigentlich erst mit 4 ½ Jahren los. Aber ich habe verschiedene Ereignisse hinterher von meiner Mutter erzählt bekommen, mein Vater war ja leider im Krieg gefallen. Meine Mutter erzählte mir alles ausführlich, als ich ungefähr 12 Jahre war; vorher habe zwar auch einiges mitbekommen, aber nicht wirklich verstehen können, was da unter den Verwandten und Freunden erzählt wurde. Trotzdem weiß ich noch so einiges aus meiner eigenen Erinnerung.

Besiegt

Ich wuchs also quasi mit dem Krieg auf, der in den letzten Jahren immer schlimmer, immer stärker wurde. Wir saßen fast immer in irgendeinem Bunker, und die Bomben fielen dauernd, oft auch ohne Voralarm. Man saß manchmal gerade beim Mittagessen, wenn plötzlich die Sirenen gingen, und man musste laufen, dass man sich irgendwo in Sicherheit brachte. Ungefähr die letzten 3/4 Monate vor Kriegsende war unsere Wohnung nicht mehr bewohnbar. Am Haus fehlten alle Fensterscheiben, und das Frühjahr 1945 war noch kalt. Wir wohnten – oder besser gesagt: hausten – in einem Schlackenberg, also einem Stollen, ganze Wochen, den ganzen Tag. Das Allernotwendigste hatten wir mitgenommen. An den Wänden standen große Kisten, und wenn man abends schlafen wollte, wurden die Deckel hochgeklappt, und man legte sich in die Kisten rein. Da es in dem Berg noch kalt war, legte man sich da rein mit allen Sachen, die man anhatte. Der Stollen hatte ziemlich gerade Wände, es wurden Unterteilungen mit Brettern gemacht. Jeder hatte seinen Platz. Die Hygiene war sehr, sehr schlecht, es gab kaum Wasser, Haare wurden kaum oder gar nicht gewaschen. Krankheiten brachen aus, aber ich habe Gott sei Dank meist Glück gehabt, dass ich nicht schwer krank wurde, vielleicht mal ein Erkältung. Es gab einen Eingang, und zwar am Grünen Weg.

Wir Kinder mussten in dieser Zeit ja irgendwie beschäftigt werden; raus durften wir kaum, weil zum Ende des Krieges hin Dauerbeschuss war. Wenn, dann durften wir nur im Eingangsbereich vor diesem Schlackenberg spielen. Es flogen ja auch Splitter durch die Gegend, und wir wurden dazu angehalten, nichts aufzuheben. Wir hielten uns wohl dran, aber die älteren Jungens waren da schon neugieriger. Ich war dabei, als einem Jungen der Unterarm weggerissen wurde, das war natürlich Schreck ohne Ende.

Irgendwann hörte der Alarm auf. Der Bunkerwart erzählte, dass wir jetzt nichts mehr zu befürchten hätten. Überall fielen sich die Leute in die Arme und weinten. Wir Kinder durften auf den Schlackenberg klettern. Dort oben lag alles voller Splitter und sonstigen Hinterlassenschaften von Bomben. Der ganze obere Teil war übergesät mit diesen Metallstücken. 

Und es kam der Tag, als die Amerikaner in Mülheim einmarschierten. Sie kamen aus der Richtung von Styrum. Das Wort ‚Amerikaner‘ hatte ich bis dato noch nicht gehört. Man hörte von Weitem so leichtes Grummeln, das immer lauter und lauter wurde. Aus den verschiedensten Richtungen kamen die Amerikaner aus verschiedenen Straßen mit ihren Panzern und zu Fuß oder mit LKWs immer näher. Uns wurde gesagt, wir müssten alle runter vom Schlackenberg und wieder rein in den Bunker. Viele rätselten, was da jetzt auf uns zukommt. Die Geräusche kamen immer näher – ich erinnere mich noch heute daran, habe es deutlich in meinem Ohr. Später, als ich Filme über das Kriegsende im Kino sah, da wusste ich dann, aha, das war das Geräusch von Panzern, von diesen Ketten, das ist so ein eindringliches Geräusch. Jetzt wussten wir, aha, es war soweit. Wir hörten von draußen Stimmen in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Und die Bunkerwarte machten die Türen auf, und dann standen sie da draußen. Und die Dolmetscher hießen uns alle nach draußen kommen. 

Die Amerikaner sind mit ihren Maschinengewehren im Anschlag in den Schlackenberg rein und guckten in jede Ecke – vorher mussten wir noch die Deckel der Holzkisten alle hochstellen, damit sie sehen konnten, ob da eventuell noch jemand drin lag oder in irgendeiner Ecke versteckt war. Aber sie fanden niemanden. Sie kamen wieder nach draußen, und es hieß, wir könnten alle wieder rein. Uns Kindern – das muss ich schon sagen – haben einige Amerikaner ein wenig Angst gemacht, nicht die so Hochdekorierten. Ich sah zum ersten Mal in meinem jungen Leben einen schwarzen Menschen. Ein schwarzer Mensch war für mich immer mit einer Strafe verbunden; der Schornsteinfeger, der war auch so, man wurde in die Ecke gestellt, und der Schornsteinfeger kommt und holt dich, oder du musst zur Strafe in den dunklen Keller. – Aber, sie haben uns direkt schon etwas gegeben: Da habe ich meine erste Schokolade gegessen! 

Befreit

Die zogen dann ab, und wir gingen alle wieder in unseren Stollen rein, kriegten sogar was zu trinken, was wir sonst auch nicht hatten. Sie brachten uns kistenweise Wasser, Wasser ohne Ende, und endlich konnten wir trinken, trinken. Wasser war ja auch Mangelware, es war ja alles rationiert. Wie die letzte oder vorletzte Nacht in diesem Bunker ablief, weiß ich heute nicht mehr. Aber nach 3/4 Tagen hieß es, wir könnten wieder aus unserem Bunker raus und nach Hause gehen. Wir suchten unsere Sachen zusammen und gingen in unsere Wohnungen zurück; die Fensterscheiben hatten sie uns eingesetzt, denn ansonsten war unsere Wohnung außer ein paar Rissen in den Wänden ja bewohnbar. Wir wohnten der Schildbergschule gegenüber; und dort hatten die Amerikaner ihr Lager aufgeschlagen. Der Schulhof stand voller Panzer und Jeeps. Für uns Kinder war das alles aufregend, Neuland: Mein Gott, was machen die jetzt, oder was tun die mit uns oder, oder, und die schwarzen Menschen immer dazwischen; die waren uns doch immer noch furchteinflößend. 

Eines Tages kamen am frühen Vormittag 3/4 Soldaten, der Kommandant und ein Dolmetscher zu uns nach Hause. Sie unterhielten sich mit meiner Mutter, als es plötzlich sehr unruhig und hektisch wurde. In der Wohnküche stand auf dem Schrank ein Foto meines gefallenen Vaters in Uniform mit schwarzem Flor dran. Die Uniform meines Vaters war nämlich schwarz. Schwarze Uniformen trugen eigentlich nur Leute der SS, aber eben auch Soldaten der Panzerspähkompanie. Die Nachbarn wurden befragt, aber schließlich konnte der Dolmetscher das Abzeichen an der Uniform dieser Einheit zuordnen, also nicht der SS. 

Dann begann für uns Kinder die neugierige Zeit. Wir waren neugierig, was da uns gegenüber passierte. Da war ein Kommen und Gehen, Tag und Nach fuhren die Jeeps, es war dadurch auch laut. Wenn sie feierten, war die Musik auch lange nachts laut zu hören. Nach ein paar Tagen kam ein sogenannter Marketenderwagen – die sahen so aus wie die Wagen bei der Kirmes: An einer Seite sind die Wagen zu, und an der anderen Seite kann man alles runterklappen. So ein Wagen stand dann plötzlich da. Und man kann sich das gar nicht mehr vorstellen: Es wurde aufgeklappt, und es kamen Lebensmittel zum Vorschein– alles was man sich so vorstellen konnte. Die meisten von uns kannten alles gar nicht, mein Gott, was die alles schon hatten! Ja, und dann – das muss ich wirklich sagen – die Amerikaner waren zu uns Kinder sehr, sehr nett. Wir waren halt neugierig und durften dann auch näher kommen. Es gab schon mal Schokolade für uns oder mal eine Apfelsine oder eine Banane. An Kaugummi kann ich mich nicht so erinnern, aber Obst eben und Schokolade. Es gab aber auch noch was zu trinken, Dosen hatten die, ich weiß heute nicht mehr, ob das Cola oder so war, aber wir durften sie mit nach Hause nehmen. 

Frau Storks bei einer Lesung zum Thema: Besiegt – Befreit – Besetzt

Hinter dem Marketenderwagen war eine Mauer, da saßen die Soldaten auch tagsüber schon mal drauf. Klar gingen wir dann auch dahin. Sie fassten uns auch manchmal so am Arm oder haben uns gedrückt oder haben gefragt, ob wir ein Kinderlied singen würden, ein deutsches, oder so – es war immer einer dabei, der das übersetzen konnte für uns. Wir haben die auch mal was gefragt, und dann haben die das übersetzt, kindliche Fragen eben, weiß ich nicht mehr welche. Aber manchmal lachten sie einfach oder holten ein Fotos raus von ihrer Familie und zeigten dann Frau und Mama und Kinder. Manchmal kullerte so die ein oder andere Träne bei den Soldaten. Sie waren ja auch lange genug und weit weg von zu Hause weg. Insgesamt muss ich sagen, war es eine gute Erfahrung, keine schlechte Erfahrung. 

Mittlerweile brachen Krankheiten aus, aus welchen Grund auch immer, mich hat es nie schlimm getroffen. Aber viele Kinder aus meinem Umfeld wurden schwer krank. Keiner wusste, woher sie Medizin herbekommen sollten; ich kann mich an diese Angst sehr genau erinnern. Auch hier haben die Amerikaner veranlasst, dass ein Arzt kam, ein amerikanischer Arzt. 

Besetzt

Nach 2/3 Monaten verließen uns die Amerikaner. Das war dann wieder eine unruhige Zeit, denn jetzt kamen die Engländer. Und die waren ja eigentlich unsere Feinde; das haben uns die Erwachsenen jedenfalls erzählt, mit diesem Bild sind wir Kinder ja aufgewachsen. Jedenfalls war das eine ganz andere Situation. Am Abend durfte keiner mehr raus auf die Straße, es wurde alles genau kontrolliert. Wir Kinder waren nicht erwünscht, wir durften uns denen also überhaupt nicht nähern. Sie haben uns sogar manchmal gedroht, Andeutungen gemacht, als ob sie schießen würden. Also, diese Erfahrung war weniger gut. 

Zum Herbst hin zogen die aus der Schule auch aus. Als sie weg waren, normalisierte sich wieder alles. Die Schule wurde renoviert, und dann war es auch bald so weit, das der Schulbetrieb aufgenommen werden konnte. Im Oktober bin ich in dieser Schule eingeschult worden. Aber ich hatte Hunger.

Ich ging gerne zu meinen Großeltern. Verwandte hatten in Selbeck einen Bauernhof, und ab und an gab es für uns auch mal Gemüse oder Kartoffeln oder auch Äpfel. Meine Großeltern versorgten uns beide – meine Mutter und mich – mit. Zu meiner Oma ging ich aber nicht nur wegen der Lebensmittel, sondern auch wegen dem Metzger, der da in der Nähe war, die verkauften nämlich Wurstbrühe. Es stand natürlich immer eine Riesenschlange vor dem Geschäft, man musste halt lange warten. Ich durfte mit meinen 7/8 Jahren mich da auch schon einreihen, und Oma kam dann ein bisschen später dazu. Wir bekamen halt eine Kanne von dieser Wurstbrühe und alle waren glücklich. Da guckten natürlich mehr Augen rein als Fettaugen drin waren, aber sie kräftigte uns. 

Ich war öfter zu Besuch bei meinen Großeltern, auch in den Ferien. Oma brachte mir auch das Klauen bei. Wenn es dunkel wurde, zogen Oma und ich uns unsere Jacken an, auch feste Schuhe. Wir klingelten bei ihrer Nachbarin, die stand schon mit ihrem Enkelsohn da. Und so gingen wir alle zusammen mit einer geflochtenen Riesentasche aus Kork los, über die Hauptstraße zu den Gleisschienen. Dort standen Waggons und überall huschten die Taschenlampen. Wir Kinder wurden in die Waggons rein gehoben, Oma stellte sich mit der Tasche davor, und wir Kindern haben mit den Händen Kohlen in diese Tasche rein geschaufelt. Das waren so eine Art Briketts, aber auch größere Stücke. In der Regel ging das gut, ohne große Aufregung und die Tasche war voll. Wir liefen natürlich sofort wieder nach  Hause, weil man es ja nicht durfte. Manchmal war es aber auch so, dass die Taschen nur halb voll waren. Man hörte man einen Pfiff – so ganz schrill – dann hieß das: alle weg! Wir stiegen aus den Waggons raus, und liefen ganz schnell nach Hause. Ich fiel auch schon mal dabei hin, einmal hatte ich mir die Hand dabei verletzt. Es ist aber alles gut gegangen, wir wurden nie geschnappt vom Aufsichtspersonal, von den Besatzern. Geklaut, sagte man damals, nicht gestohlen. So vornehm drückte man sich damals nicht aus, geklaut. 

Zu Hause war über viele Jahre Essen das große Thema. Man musste sich alles besorgen. Man hörte manchmal was von schwarzen und weißen Schweinen. Die Kinder wussten nicht recht was damit anzufangen und fragten. Die Erklärung war so: Es gibt Schweine, schwarze Schweine und weiße Schweine. Das Schwarze wird bei Nacht und Nebel geschlachtet, das darf aber kein Mensch mitbekommen, also vor allem nicht die Engländer. – Es wurde alles kontrolliert, wer also Viehzeug hatte, musste die Ware abgeben. 

Und wir Kinder haben selbstverständlich geschwiegen, wenn um uns herum die Erwachsenen wieder so huschten und geheimnisvoll taten. Überhaupt waren wir still, wir waren nie irgendwie unruhig, so wie ich heute Kinder beobachte. Wir waren ja auch irgendwie durch den Krieg, durch die Bomben, durch den Alarm immer … wir waren einfach stille Kinder. Wir waren nicht so – so wie heute – fröhlich oder so, alles war stiller irgendwie, ja gedrückter, ja. – Das entspannte sich erst, als die Schulen wieder öffneten. Ich kannte ja viele Jungs und Mädchen bereits aus dem Schlackenberg; dort waren sie mit ihren Eltern und Großeltern. In der Schule wurden sie dann etwas lebhafter, alles wurde etwas lockerer – Gott sei Dank. Da konnte man auch wieder mal lachen, wir konnten dann ja auch draußen spielen. Manchmal war das mit dem Lachen auch übertrieben, wir lachten ja sogar, wenn jemand hingefallen war, da lachten wir uns kaputt. Aber, es war so. Aber man lachte halt mal wieder. 

Insgesamt ging alles Schritt für Schritt, ganz kleine Schritte z.T., voran. Mit 8/9 (also 1948) Jahren ging ich mit zur Kommunion. Alles wurde vorher besprochen, wie läuft das ab, wer kommt, wer bringt was mit? Von Oma und Opa kriegte ich aus irgendwelchem Mehl ein Schäfchen, also ein gebackenes Schäfchen, haben die als Geschenk mitgebracht. Keine Ahnung, woher die das Mehl hatten! Wir mussten ja alles organisieren, es gab ja noch nichts. Mein Gott, habe ich mich darüber gefreut und es vor allem behütet. Ich schnitt immer nur ein ganz kleines Stückchen ab und dann wurde es wieder verpackt, damit es auch über mehrere Tage auch hielt. – Ich hatte auch ein, geliehenes Kommunionkleid, das wurde auf meine Größe geändert.

Wir wurden von den Engländern irgendwo immer noch kontrolliert. Was genau, kann ich heute nicht mehr sagen, dafür war ich noch zu jung. Jedenfalls erinnere ich mich, dass die Engländerinnen so manches Mal kamen und kontrollierten, es gab auch viele Straßenkontrollen. Man fühlte sich immer noch so ein bisschen beobachtet, würde ich heute sagen. Auch von den Nachbarn bekam man das ein oder andere mit; als Kind kriegt man ja so Stimmungen mit. Auch Neid spielte eine große Rolle, der eine hatte mehr, der andere weniger. Es gab ja auch die Gerüchte mit diesen schwarzen und weißen Schweinen. Die Engländer durften davon ja nun überhaupt nichts erfahren!Auch hatten unsere Eltern die Angst, dass wir in den Schuttbergen spielten. Das ganze Zeug aus dem Krieg, die Munition und alles, das lag da ja alles noch rum.

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