Mangelware in den 1940er Jahren

Die gegenwärtige Coronakrise ist Auslöser und gibt Anlass auf vergleichbare Situationen der Vergangenheit zurückzublicken. Wir erleben ähnliche Verhaltensweisen der Bevölkerung, wie man sie in den letzten Kriegswochen und frühen Nachkriegsjahren etwa bis zur Währungsreform im Juni 1948 erlebt hatte und durchleben musste. Ein direkter Vergleich ist dabei nicht zulässig, weil die Ursachen des jeweils herrschenden Mangels gänzlich andere waren.

1944 bis 1948 hatten wir es mit einem absoluten Mangel an Bedarfsgütern jeglicher Art zu tun, weil in Europa und anderen Teilen der Welt durch die Zerstörungen der verheerenden Kriegsereignisse buchstäblich kaum noch ein Stein auf dem anderen stand. 

Gegenwärtig sind jedoch die erforderlichen Bedarfsgüter im Grunde genommen verfügbar. Es sind jedoch andere Gründe, die den Zugang zu diesen Gütern erschweren, wenn nicht sogar gänzlich verhindern. Der Feind, der etwa seit dem Monat Februar Komplikationen bei der Beschaffung von Bedarfsgütern verursacht, heißt Coronavirus. Für eine wirksame Bekämpfung dieses Gegners fehlen der Medizin noch die nötigen Mittel, so dass sich die Krise mittlerweile zu einer Pandemie ausweiten konnte. Wir müssen uns deshalb mit Abwehrtechniken behelfen.

In unserer Familie, bestehend aus dem Elternpaar Ruth und Karl Heinz, dem Sohn Arvid mit Ehefrau Sabine und unserer Tochter Birte, sieht die Abwehrstrategie so aus, dass uns als Elternpaar seitens der Kinder eine Ausgangssperre auferlegt wurde. Tochter Birte befindet sich berufsbedingt als Lehrerin des Aufbaugymnasiums Essen in Quarantäne, da das Institut momentan geschlossen ist. Der Sohn arbeitet als Mechatroniker beim Malteserhilfswerk Essen und ist mit der Einrichtung und Wartung von Notrufeinrichtungen beschäftigt. Die Schwiegertochter arbeitet bei einer Filialkette der Malteser-Apotheken in Duisburg. Beides also krisenfeste Sparten wie wir glauben. Die sozialen Kontakte gestalten sich so,  dass wir mit Sohn und Schwiegertochter nur im Treppenhaus mit gebotenem Sicherheitsabstand in kurzen Wortwechseln verkehren oder per Festnetztelefon. Tochter Birte versorgt uns mit Lebensmitteln nach Bestellung und schränkt die Ablieferung auf möglichst kurze Besuche ein, wobei auf Körperkontakte vollkommen verzichtet wird. Allerdings stößt diese Art des Einkaufens gelegentlich auf Probleme dergestalt, dass unsere Mutter mit der durch die Tochter getroffene Warenauswahl nicht auf gleicher Linie liegt. Das sind allerdings Abweichungen, die man nicht als Probleme bezeichnen darf. Insgesamt gesehen befinden wir uns noch in tragbaren Verhältnissen.

Allerdings trägt unsere Tochter auch den schwierigeren Teil bei der Bewältigung der momentanen Verhältnisse, weil  sie sich mit den Verhältnissen und gebotenen Vorschriften in der Öffentlichkeit befassen muss. Da muss man nicht auf die inzwischen sagenhafte Ausgabe von  Klopapierrollen kommen, denn da denken sich die unterschiedlichen Handelsunternehmen eigene für sie jeweils praktikable Systeme aus, die einem einiges an Geduld und Toleranz abverlangen.

Nicht zu leugnen ist jedoch die Tatsache, dass sich einige Phänomene als vergleichbar aufdrängen, zum Beispiel wenn in der frühen Nachkriegszeit das Gerücht die Runde machte: ‚Bei Fisch-Wilken in der Wanheimer Straße gibt es Grüne Heringe!’ Dann hieß es ohne Zögern die Einkaufstasche und die Beine in die Hand nehmen und ab Richtung Fischladen. Die Entfernung von unserer Wohnung zur Einkaufsquelle betrug gut 1,5 km, vergleichbar etwa mit der Strecke vom Kaiserplatz in Mülheim/Ruhr bis zum Oppspring.  Zunächst traf man schon weit vor dem Geschäft die übliche Warteschlange Kaufinteressierter  an. War man dann endlich fast an der Reihe, bedient zu werden, war der Fischvorrat vergriffen, und man musste sich mit etwas weniger Begehrenswertem begnügen oder im benachbarten Gemüseladen irgend etwas Brauchbares einkaufen, um nicht vollkommen vergebens den Weg gemacht zu haben. Dieses Beispiel lässt sich nach den neuesten Erfahrungen gewiss noch erweitern.

Auch ein anderes Phänomen lässt einen Vergleich zu. Die schwierige Situation in der häuslichen Gemeinschaft, verursacht durch das eingeschränkte Maß an Abwechslung wegen der Beschränkung sozialer Kontakte und den Ausfällen an Informationsmöglichkeiten über Angebote von Märkten jeglicher Art, können selbst aus nichtigen Anlässen zu Konflikten in Familien führen. Verbale  Auseinandersetzungen können in zivilisierten Kreisen gewiss überwunden werden. Es besteht jedoch anderenorts die Gefahr, dass es zu körperlicher Gewalt führt. In den Medien wurde auf Ereignisse dieser Art und den damit verbundenen Gefahren hingewiesen.

Mülheim a.d.Ruhr, 09.04.2020

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