Fähnlein 29, Bann 111 – Hitlers Kinder

Die Hitler-Jugend, abgekürzt auch HJ, war eine Teilorganisation der NSDAP zur Erfassung und Gleichschaltung aller Jugendlichen vom 10. bis zum 18. Lebensjahr. Als Nachwuchsorganisation der SA, einer seit 1920 bestehenden Parteikampfgruppe der Nationalsozialisten, wurde sie bereits 1926 gegründet.

Die Hitler-Jugend gliederte sich in vier Teilorganisationen: 10- bis 14-jährige Jungen gehörten zum Deutschen Jungvolk und 10- bis 14-jährige Mädchen zu den Jungmädeln; 14- bis 18- jährige Jungen waren der Hitler-Jugend im engeren Sinn und 14- bis 18-jährige Mädchen dem Bund Deutscher Mädel, auch BDM genannt, zugeordnet.

Mit der Vollendung meines 10. Lebensjahres wurde auch ich 1943 in das Deutsche Jungvolk eingegliedert. Eine Selbstverständlichkeit, der niemand sich entziehen konnte. Ich bekam eine Uniform: im Sommer eine kurze und im Winter eine lange Hose, die von einem Ledergürtel mit Koppel gehalten wurde, ein Braunhemd, zu dem eine schwarze Halsbinde in einem Lederknoten getragen wurde, eine Uniformjacke mit blanken Metallknöpfen, eine Schirm-Kappe und schließlich noch derbe Schuhe. Auf der Straße, beim Betreten eines Geschäftes und überhaupt, wo ich in der Öffentlichkeit grüßte oder grüßen mußte, hatte ich den rechten Arm hochzureißen und ein zackiges „Heil Hitler“ zu schreien. „Guten Tag“ oder gar „Grüß Gott“ zu sagen, war verpönt. Und nicht nur, wenn man die Uniform trug.

Ich wurde dem Badener-Badener Fähnlein 29, das zum sachlichen und persönlichen Geltungsbereichs des übergeordneten Bannführers im Bann 111 gehörte, zugeordnet.

Ein Fähnlein, unter dem man im 16./17 Jahrhundert einen Schlachthaufen oder auch eine Verwaltungseinheit der Landsknechte verstand, entsprach mit einer Stärke von etwa 120 Mann der Stärke einer Kompanie, der untersten Einheit der Truppe bei Heer, Luftwaffe und Marine;  in den fliegenden Verbänden auch Staffel, bei der Artillerie auch Batterie genannt.

Unser Fähnlein, das  drei sogenannte Züge umfasste, wurde von dem etwa 18-jährigen Fähnleinführer Pommerenke geführt. Ihm unterstanden die drei  Zugführer, die für Ordnung und Zucht in ihrem Zug verantwortlich waren. Die Züge waren altersmäßig aufgebaut. Ich gehörte dem Zug 3 an, zu dem die jüngsten Pimpfe gehörten. Jeder Zug bestand aus drei Horden, für die je ein Hordenführer zuständig war. Mindestens wöchentlich einmal mussten wir auf dem Augustaplatz, der schräg gegenüber unserer Wohnung in der Lichtentalerstraße liegt, „antreten“. Die Horden und Züge und schließlich das gesamte Fähnlein richtete sich in Reih und Glied aus. Die Hordenführer meldeten die Stärke der von ihnen vertretenen Horden dem Zugführer und gegebenenfalls, aus welchen Gründen der eine oder auch andere Pimpf  fehlte.

Und dann erschien der Fähnleinführer. Er baute sich im Abstand von etwa 20 Metern vor den angetretenen und stramm stehenden Pimpfen auf. Mit einem lauten „Heil Hitler“ des Fähnleinführers, das hundertfach erwidert wurde, galt  die Veranstaltung als eröffnet. Die Zugführer traten nacheinander, Zugführer 1, Zugführer 2 und schließlich Zugführer 3 vor ihren Fähnleinführer, schlugen die Hacken zusammen und machten Meldung über die jeweiligen  Zugstärken. Dann gingen sie zu ihrem Zug zurück, vor dem sie sich aufbauten. Der Fähnleinführer übernahm das Kommando. „Still gestanden! Rechts um! Im Gleichschritt marsch! Ein Lied!“ Und wir brüllten los: „ Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem Großen Krieg. Wir haben den Schrecken gebrochen, für uns war’s ein großer Sieg … “ Und unter Führung des Fähnleinführers, die Zugführer an der Spitze ihres jeweiligen Zuges, marschierten wir überzeugt von unserem Tun und laut singend durch die Stadt, allen Leuten signalisierend: Schaut her, jetzt kommen wir!  Die Zukunft des „auserwählten Volkes“.

Der Führerkult und die totalitäre Erziehungspraxis mit der für die damalige Situation bereits unerläßlichen Durchhaltestimmung spiegelt sich im Duisburger Heimatkalender von 1942 wider:

„Wenn die schmetternden Fanfaren unserer kleinsten Kämpfer, der Pimpfe des Jungvolkes, sich mit den Landsknechtstrommeln zum Marsch durch die Stadt vereinen und die Wimpel hochgereckt im Winde flattern, dann stehen die Männer und Frauen Duisburgs begreifend still und recken die Hand zum Gruß. Vorwärts – Vorwärts  (Anfangsworte des HJ-Liedes) schallt es durch die Straßen und Gassen, und der Wind, der den Ruf fortpflanzt und die Fahne wehen läßt, wird zum Atem einer neuen großen Zeit. Dann steigt ein unausgesprochenes Gebet empor, und die Größe und Notwendigkeit des Ringens der Front für Deutschlands Rettung, für Deutschlands Freiheit und Zukunft verstehend, drängt sich aus tiefstem Herzen ein stiller Gruß an den Führer: „Führer, wir glauben an dich, – Führer, wir folgen dir, – Führer, wir lieben dich.“

Im Sommer 1944 stand für das Fähnlein eine Woche „Fahrtenzeit“ in einer Jugendherberge im Hochschwarzwald an. Wir fuhren mit dem Zug bis Achern und wanderten sodann über Stunden immer bergauf. Unsere „Affen“, so hießen die Rucksäcke, waren schwer und drückten unangenehm. Der Schweiß lief uns in Strömen übers Gesicht. Und wir waren  froh, als wir endlich unser Ziel erreichten.

Wir schliefen in großen Schlafräumen. Um sieben Uhr morgens wurden wir von unserem Zugführer geweckt. Er stand im Türrahmen und brüllte: „Guten Morgen! Aufstehen!“ Und wir flitzten, wie von der Tarantel gestochen, aus unseren Feldbetten. Nur mit einer Turnhose bekleidet und mit Turnschuhen an den Füßen hasteten wir ins Freie, wo wir schon erwartet wurden. Und los ging es. Ein Waldlauf über ca. 3 Kilometer stand an, und wer noch nicht richtig wach geworden war, wurde spätestens jetzt aus seinen Träumen gerissen. Im Anschluß an den Waldlauf ging es zum Waschen  und nach dem Anziehen der Uniform und dem Bettenmachen an den Frühstückstisch. Alles hatte seine militärische Ordnung, und die weitere militärische Ausbildung ließ nicht lange auf sich warten. Nach dem Frühstück ging es ins Gelände. Mit einem Kompaß wurde die Himmelsrichtung ausgemacht, in der das gesetzte Ziel , zum Beispiel eine Berghöhe, lag. An Ort und Stelle angekommen, wurden, unter Zuhilfenahme des Daumens, die Entfernung ausgemachter Zielpunkte bestimmt und Strategien entwickelt, wie die zur Eroberung anstehende Bergkuppe im Handstreich zu nehmen sei.

Zugegebenermaßen wurde es nie langweilig. Aber alle waren dennoch froh, als es nach einer Woche wieder heimwärts ging.

Letzte Artikel von Ernst van Megern (Alle anzeigen)

Schreiben Sie einen Kommentar